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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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Hut mit der breiten Krempe vom Kopf und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Mit einer beinahe väterlichen Geste strich er dem Jungen über die Wange. Dann nickte er nachdenklich. »Wahrscheinlich tust du gut daran, dich von mir zu lösen. Ich habe einen weiten, schwierigen Weg bis nach Wittenberg vor mir.«
    »Wittenberg? Die Stadt Martin Luthers?« Verständnislos zuckte der Junge die Achseln, doch er kam nicht mehr dazu, sich über das Ziel seines Gegenübers Gedanken zu machen. Fassungslos öffnete er den Mund. Die Gefahr hatte er wohl gespürt, denn er machte einen Schritt zur Seite, aber den Dolch sah er erst im letzten Moment aufblitzen, und wären das warme Blut und der scharfe Schmerz an seiner Kehle nicht gewesen, so hätte er den Stahl der Schneide mit einem der silbrig glänzenden Sterne am Nachthimmel verwechselt.
    Das Gesicht des älteren Mannes zeigte nicht die geringste Regung, als er seinen Dolch neben dem leblosen Körper des Jungen in einer Wasserpfütze reinigte und danach wieder in der Schlaufe seines Wamses verbarg. Sein Weg, davon war er überzeugt, war in den Büchern des Himmels vorgezeichnet.
    Und er beabsichtigte, ihn ohne Zeugen zu gehen.

1. Kapitel
    Lippendorf in Sachsen, zwei Jahre später
    Philippa von Bora beugte sich versonnen wie eine Schlafwandlerin über die Brüstung ihres Erkers und starrte über die Dächer des Gutshauses hinweg auf die Nebelschwaden, die wie ein Meer aus eisigen Flammen über die gefrorene Wiese unterhalb ihres Fensters rauschten.
    Die Kälte des Wintermorgens hinterließ eine milchige Blässe auf dem Gesicht der schlanken jungen Frau, die lediglich mit einem knöchellangen Nachtgewand aus gefärbter Wolle bekleidet war. Philippa empfand die Kälte indes nicht als unangenehm. Vor geraumer Zeit hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, früh aufzustehen, um die Morgenröte sowie die Frische des erwachenden Tages zu genießen. Nur so gelang es ihr, sich eine Weile ungestört ihren Gedanken hingeben zu können, bevor die Pflichten des Tages sie einholten.
    Plötzlich zuckte Philippa zusammen. In ihrem Rücken klapperten schwere Holzschuhe über die Dielenbretter. Roswitha, dachte sie, ohne sich umzudrehen. Ich habe der Alten hundertmal gesagt, daß ich es nicht mag, wenn sie meine Kammer betritt, ohne anzuklopfen. Trotzig beugte sie sich tiefer über die Brüstung. Ihr langes Haar flatterte im Wind.
    »Ihr werdet Euch noch den Tod holen«, drang die Stimme der alten Frau, die Philippa jeden Morgen beim Ankleiden half, an ihr Ohr. »Entweder Ihr stürzt in den Hof und brecht Euch den Hals, oder Ihr bekommt Fieber. Die Entscheidung liegt bei Euch!« Die rauhe Stimme der Amme klang weniger aufgebracht als vielmehr traurig und gleichmütig, als hätte Roswitha sich schon lange damit abgefunden, daß ihre Ratschläge in den Wind geschlagen wurden.
    Auf einmal bereute Philippa ihr schlechtes Benehmen. Freiheit bedeutete nicht, anderen Menschen Kummer zuzufügen. Irgendwo hatte sie dieses Zitat gelesen, doch ihr fiel nicht ein, wo. Mit einem tiefen Seufzer griff sie nach ihrem Mieder und dem Rock, der, von Roswitha ordentlich gefaltet, auf einer Truhe lag, und zog sich an. Ihre Amme half ihr nicht dabei. Sie schien etwas zu suchen. Leise murmelnd stand sie in der Mitte der Kammer und maß mit prüfendem Blick die hohen Wandschränke, hinter deren Türen Philippa ihre Kostbarkeiten aufbewahrte. Verdrossen klappte sie den Deckel der Truhe auf, scheuchte Philippa zur Seite und begann zwischen Leibtüchern, Spitzen, Schleiern und anderen Dingen zu wühlen. In der Hauptsache fand sie jedoch Bücher.
    »Beim Kelch des heiligen Cosmas, ich kann nicht verstehen, warum Ihr diese Unmengen von Büchern und Papierbögen ausgerechnet in Eurer Kammer aufbewahren müßt. Gut Lippendorf ist doch kein Nonnenkloster!« Mit einer hilflosen Gebärde richtete die Alte sich auf, trottete zu den Schränken hinüber und schlug den schweren Vorhang zurück, hinter dem sich die wuchtigen, doch mit allerlei kunstvollen Schnitzarbeiten versehenen Regale, Kisten und Borde ihrer Herrin verbargen. Ein erstickter Schrei entwich ihrer Kehle, und sie hob abwehrend die Hände. Der Bücherturm schwankte bereits gefährlich über ihrem Kopf, bereit, den vorwitzigen Eindringling jeden Moment unter seiner zentnerschweren Last zu begraben.
    »Hättet Ihr vielleicht die Güte mir zu verraten, wofür Ihr all das verwirrende Zeug in Eurem Kasten braucht?« fragte die Alte weiter. »Oder

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