Die Anstalt
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I ch kann meine Stimmen nicht mehr hören und weiß daher nicht so recht weiter. Irgendwie hege ich den Verdacht, dass sie diese Geschichte viel besser erzählen könnten als ich. Wenigstens hätten sie ihre eigenen Ansichten und Vorschläge zu der Frage, was am Anfang und was am Ende und was dazwischenstehen könnte. Sie würden mir sagen, wo ich Details einarbeiten oder überflüssige Informationen aussparen sollte, was unverzichtbar und was trivial für sie ist. Nach so langer Zeit fällt es mir nicht eben leicht, mich an diese Dinge zu erinnern, und ich könnte wahrhaftig ihre Hilfe gebrauchen. Es ist so viel passiert, dass es wirklich schwer für mich ist, immer genau zu wissen, was wohin gehört. Manchmal bin ich mir auch nicht sicher, ob die Dinge, an die ich mich deutlich erinnern kann, tatsächlich stattgefunden haben. Eine Erinnerung, die eben noch in Stein gemeißelt war, erscheint mir im nächsten Moment so nebulös wie die Dunstschleier über einem Fluss. Darin liegt eines der Hauptprobleme für einen Verrückten: Man kann sich einfach nie sicher sein.
Lange Zeit dachte ich, es hätte – wie zwischen zwei Buchstützen gewissermaßen – alles mit einem Tod begonnen und mit einem Tod geendet, doch jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht wurde das alles ja damals, vor so vielen Jahren, als ich jung und richtig verrückt war, von etwas viel Kleinerem und schwer Fassbarem ausgelöst, vielleicht einer heimlichen Eifersucht oder unterdrückten Wut, möglicherweise aber auch von etwas viel Größerem und Lauterem wie dem Stand der Sterne am Himmel, den Kräften der Gezeiten oder der unaufhaltsamen Drehung von Mutter Erde. Fest steht nur, dass ein paar Leute gestorben sind und dass ich einfach mehr Glück als Verstand hatte, nicht zu ihnen zu gehören, was zu den letzten Bemerkungen meiner Stimmen gehörte, bevor sie abrupt verstummten.
Anstelle ihres Raunens bekomme ich nun Medikamente, die sie zum Schweigen bringen. Einmal am Tag nehme ich brav ein psychotropes Mittel, eine ovale, eierschalenblaue Pille, von der ich einen derart trockenen Mund bekomme, dass ich wie ein keuchender alter Mann nach zu vielen Zigaretten klinge oder wie ein halb verdursteter Deserteur der Fremdenlegion, der gerade die Sahara durchquert hat und um einen Schluck Wasser fleht. Darauf folgt unverzüglich ein scheußlich bitter schmeckender Stimmungsheber, der die gelegentlichen niederträchtigen, selbstmörderischen Depressionen bekämpft, in die ich, wie mir meine Sozialarbeiterin ständig predigt, jederzeit verfallen kann, egal, wie ich mich gerade fühle. In Wahrheit könnte ich, glaube ich, in ihr Büro marschieren und vor lauter überschwänglicher Freude über den positiven Verlauf meines Lebens die Hacken zusammenschlagen, und sie würde mich trotzdem fragen, ob ich meine tägliche Dosis genommen habe. Von dieser herzlosen kleinen Pille bin ich verstopft und von Wassereinlagerungen so aufgedunsen, als hätten sie mir die Blutdruckmanschette nicht um den linken Arm, sondern um den Brustkorb gelegt und sie dann fest aufgepumpt. Folglich brauche ich ein Diuretikum und ein Abführmittel, um diese Symptome zu bekämpfen. Natürlich bekomme ich vom Diuretikum rasende Migräne, als ob mir ein besonders fieser, grausamer Sadist mit dem Hammer an den Schädel schlüge, ergo gibt es codeinhaltige Schmerztabletten gegen diese kleine Nebenwirkung, während ich wegen der anderen Pille ständig zur Toilette renne. Und alle zwei Wochen bekomme ich ein starkes Antipsychotikum mit einer kurzen Spritze injiziert. Zu diesem Zweck muss ich vor der Schwester im städtischen Krankenhaus die Hosen runterlassen, wofür sie mich mit stets haargenau demselben Lächeln und der haargenau im selben Ton gestellten Frage belohnt, wie es mir denn heute ginge, worauf ich »ganz gut« antworte, egal, ob es stimmt oder nicht, weil ich trotz der verschiedenen Nebelschleier des Wahnsinns durchaus kapiere, dass es ihr so was von egal ist, wie es mir geht, und dass sie es lediglich als ihre Pflicht erachtet, mir eine Rückmeldung zu entlocken.
Das Problem ist nur, dass dieses Antipsychotikum mich zwar, wie sie mir zumindest weismachen wollen, an boshaftem, abscheulichem Verhalten hindert, aber mir auch eine kleine Schüttellähmung in den Händen beschert, so dass sie zittern, als wäre ich irgend so ein nervöser Steuersünder, der dem Buchprüfer des Finanzamts gegenübersitzt. Außerdem zucken mir davon die Mundwinkel ein wenig, so dass ich
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