Richter 07
Erstes Kapitel
»Während das Totenfest im Gange ist, mein Herr, haben wir hier unseren besten Sommermonat«, erklärte der behäbige Wirt. Dann wiederholte er: »Es tut mir sehr leid, mein Herr.«
Mit unverhülltem Bedauern blickte er zu dem großen, bärtigen Herrn auf, der vor der Schranke seines Ladentisches stand. Obgleich der Reisende nur ein schlichtes braunes Gewand und eine Kappe trug, die keinerlei Rangabzeichen aufwies, verriet seine hoheitsvolle, achtunggebietende Miene den hohen Regierungsbeamten – jene Art von Gast also, dem man für die Unterkunft einer Nacht einen gepfefferten Preis abverlangen konnte.
Ein Anflug von Ärger huschte über das ernste Gesicht des Bärtigen. Während er sich den Schweiß von der Stirne trocknete, sprach er zu dem stämmigen Burschen, der ihn begleitete:
»Das Totenfest hatte ich ganz vergessen! Die am Straßenrand aufgestellten Altäre hätten mich daran erinnern sollen. Nun ist das schon das dritte Gasthaus, wo wir vergeblich anzuklopfen versucht haben. Besser, wir geben es auf und reiten stracks durch die Nacht nach der Hauptstadt Tschin-hwa. Wann könnten wir da ankommen?«
Sein breitschultriger Begleiter zuckte die Achseln.
»Schwer zu sagen, Herr. Ich kenne den nördlichen Teil des Tsehin-hwa-Kreises nur ungenau, und die Dunkelheit macht die Sache nicht leichter. Zwei oder drei Wasserläufe haben wir außerdem zu überqueren. Vielleicht werden wir die Stadt gegen Mitternacht erreichen, das heißt wenn wir Glück mit den Fähren haben.«
Der alte Schreiber, der die Kerze auf dem Ladentisch zurechtmachte, hatte endlich den Blick des Wirtes auffangen können. Jetzt erhob er seine hohe, schrille Stimme:
»Wie wär’s mit dem Roten Pavillon für die Herren?«
Der Wirt rieb sich sein rundes Kinn und sagte dann zweifelnd:
»Schöne Räume, freilich. Sie gehen nach Westen und sind kühl den ganzen Sommer durch. Aber sie sind nicht ordentlich durchgelüftet und …«
»Wenn sie leer stehen, nehme ich sie!« fiel ihm der Bärtige ins Wort. »Seit dem frühen Morgen liegen wir auf der Straße.« Und zu seinem Begleiter gewandt, fügte er hinzu: »Hol unsre Satteltaschen und übergib die Pferde dem Stallknecht!«
»Sie sind in den Räumen willkommen, mein Herr«, nahm der Wirt seine Rede wieder auf, »doch ist es meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß …«
»Etwas extra will ich gern bezahlen!« unterbrach ihn der andere von neuem. »Gebt mir das Fremdenbuch her!«
Der Wirt klappte den unförmigen Band an der Seite auf, die die Überschrift »28. Tag des 7. Mondes« trug, und schob ihn dem Fremden zu. Dieser feuchtete den Schreibpinsel am Tuschestein an und schrieb mit fester Hand: »Di Jen-dsiä, Amtmann des Bezirks Pu-yang, auf der Rückreise von der Hauptstadt zu seinem Amtsposten. Begleitet von einem Gehilfen namens Ma Jung.« Als er das Buch zurückgab, fiel sein Blick auf den Einbanddeckel, auf dem in großen Schriftzeichen zwei Worte gemalt waren: »Ewige Wonne.«
»Eine hohe Ehre für mich, den Amtmann unseres Nachbarbezirks unter meinem Dach zu beherbergen!« sagte der Wirt verbindlich. Aber als er auf die Rücken der weggehenden Gäste starrte, murmelte er leise: »Wie peinlich! Der Mensch ist ein berüchtigter Unruhestifter; hoffentlich findet er nicht heraus …« Und besorgt schüttelte er den Kopf.
Der alte Schreiber führte Richter Di durch die Eingangshalle zum Mittelhof, der von großen, zweistöckigen Gebäuden umgeben war. Laute Stimmen und stürmisches Gelächter drangen hinter den erleuchteten, durch Papier abgeschirmten Fenstern hervor. »Alles besetzt, jedes Zimmer ohne Ausnahme!« flüsterte der Graukopf, als er den Richter durch das hohe, schön verzierte Tor an der Hinterwand des Hofes geleitete.
Nun befanden sie sich in einem bezaubernden, von Mauern eingefriedeten Garten. Das volle Mondlicht beschien die geschmackvoll angelegten blühenden Sträucher und den stillen Spiegel eines künstlichen Goldfischteiches. Richter Di wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, denn selbst im Freien war die Luft heiß und drückend schwül. Abgerissene Fetzen von Singstimmen und Gelächter kamen aus dem Hause zu seiner Rechten.
»Man fängt zeitig an hier«, bemerkte er.
»Der Morgen ist die einzige Zeit, zu der man auf der Paradiesinsel keine Musik vernimmt, Herr!« sagte der alte Mann voller Stolz. »In allen Häusern fängt der Betrieb kurz vor Mittag an. Von da ab gehen späte Mittagessen in frühe Abendmahlzeiten über, und
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