Die Mars-Chroniken
Timothy schaute. Aber er sah nur die bleistiftdünne schnurgerade Linie des Kanals, violett, in einem weiten flachen Tal, das auf beiden Seiten von niedrigen, zerklüfteten Hügeln gesäumt war. Und der Kanal führte immer weiter – an Städten vorbei, die wie ein leerer Totenschädel klappern mußten, wenn er sie schütteln würde. Hundert oder zweihundert Städte, die an den heißen Tagen und in den kühlen Nächten ihren Sommerträumen nachhingen.
Sie hatten Millionen Meilen zurückgelegt für diesen Ausflug – angeblich zum Angeln. Aber es hatte an Bord der Rakete auch ein Gewehr gegeben. Es waren Ferien. Aber warum dann all die Nahrungsmittel, die zehn, zwanzig Jahre lang reichen würden und jetzt bei der Rakete versteckt lagen? Ferien? Im Hintergrund dieser Ferienreise schwebte kein befreites, fröhliches Lachen, sondern etwas Hartes und Knochiges und womöglich Erschreckendes. Timothy wußte den Schleier des Geheimnisses nicht zu lüften, und die beiden anderen Jungen waren viel zu sehr damit beschäftigt, zehn und acht Jahre alt zu sein.
»Noch keine Marsianer. Blöd.« Robert stemmte sein spitzes Kinn in die Hände und starrte düster über den Kanal.
Paps hatte ein Radio mitgebracht, das an seinem Handgelenk festgeschnallt war. Es funktionierte nach einem altmodischen Prinzip: man drückte es gegen die Knochen hinter dem Ohr, und es übermittelte einem die Vibrationen der Sprache oder der Musik. Paps lauschte. Sein Gesicht glich einer der alten zerfallenen Marsstädte – es war ausgehöhlt, ausgetrocknet, fast tot. Schließlich gab er das Gerät an Mama weiter. Sie öffnete erschreckt den Mund.
»Was…«, wollte Timothy fragen, doch er konnte seinen Satz nicht zu Ende bringen.
Da ertönten zwei gewaltige, markerschütternde Explosionen, die immer lauter zu werden schienen und dann von einem halben Dutzend kleinerer Detonationen abgelöst wurden.
Paps riß den Kopf hoch und schaltete abrupt auf eine höhere Geschwindigkeit. Das Boot machte einen Satz und preschte holpernd und zitternd los. Der Ruck erschreckte Robert, während Michael angstvolle, aber auch begeisterte Schreie ausstieß und sich an Mamas Beinen festklammerte, während der nasse Strom des Wassers an seiner Nase vorbeirauschte.
Paps schwenkte das Boot herum, drosselte die Geschwindigkeit und steuerte es in einen kleinen Seitenkanal an eine abbröckelnde Steinmole, die nach verwesendem Krabbenfleisch roch.
Das Boot lief so stark auf, daß alle nach vorn geworfen wurden, doch niemand verletzte sich. Paps hatte sich bereits umgedreht, um zu sehen, ob die aufgeworfenen Wellen ihr Versteck verraten konnten, doch sie beleckten nur die Ufersteine, fielen zurück, trafen aufeinander und beruhigten sich, im Sonnenlicht flimmernd. Dann war alles vorüber.
Paps lauschte. Die anderen taten es ihm nach.
Paps Atem hallte wie Faustschläge von den kalten, nassen Steinen wider. Im Schatten blieben Mamas Katzenaugen unentwegt auf Vater gerichtet und lauerten auf einen Hinweis, auf den nächsten Schritt.
Paps atmete erleichtert auf, schlug sich an die Stirn und lachte.
»Die Rakete natürlich. Bin ich schreckhaft! Die Rakete!«
Michael fragte: »Was ist geschehen, Paps, was ist geschehen?«
»Oh, wir haben gerade unsere Rakete in die Luft gejagt, das ist alles«, erklärte Timothy und versuchte seiner Stimme einen gelangweilten Tonfall zu geben. »Ich habe schon andere Raketen explodieren hören. Das war unsere.«
»Warum haben wir unsere Rakete explodieren lassen?« fragte Michael. »Warum, Paps?«
»Das gehört zum Spiel, du Dummkopf!« sagte Timothy.
»Ein Spiel!« Das Wort gefiel Michael und Robert sehr.
»Paps hat dafür gesorgt, daß sie hochging, damit niemand weiß, wo wir gelandet sind oder wohin wir verschwunden sind! Ich meine, falls mal jemand nach uns sucht, verstehst du?«
»Mann, ein Geheimnis!«
»Von meiner eigenen Rakete erschreckt«, sagte Paps zu Mama. »Ich bin wirklich ganz schön nervös. Es ist doch Blödsinn, anzunehmen, daß hier noch Raketen auftauchen – abgesehen von einer vielleicht, wenn Edward und seine Frau mit ihrem Schiff durchkommen.«
Wieder hob er das winzige Radio ans Ohr. Nach zwei Minuten ließ er seine Hand sinken, und es war eine Bewegung, als wollte er einen alten Putzlappen wegwerfen.
»Es ist endgültig vorbei«, sagte er zu Mama. »Die Sendungen haben gerade aufgehört. Der letzte weltweite Sender ist verstummt. In den letzten Jahren waren es sowieso nur noch wenige. Jetzt ist es absolut
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