Die Maya-Midgard-Mission
um ihn herum blieb sturmgepeitschtes, graues Einerlei.
Schon bald hatte der Vogel jede Orientierung verloren. Nur mühsam schafften es se ine Sinne, zwischen oben und unten zu unterscheiden. Nichts blieb ihm übrig, als weiter zu fliegen – oder zu sterben. Das wilde Vibrieren seiner versagenden Muskeln in den nächsten Flügelschlag zu stecken und wieder in den nächsten, in einen weiteren und so fort, das war seine Aufgabe. Sich nicht um Ziel und Zweck seines Tuns zu sorgen, lediglich seinen Absturz und den Aufprall zu vermeiden, das war sein Streben.
Es dauerte nicht lange und der Schmerz wurde zur Agonie, das Auf und Ab der Schwin gen zum Todeszucken.
Doch der weiße Vogel war stolz auf seine fliegerischen Fähigkeiten. Dieser Stolz verlieh ihm neue Stärke. Er wollte nicht aufgeben. Er konnte nicht. Noch nicht. Er streckte seine Fl ügel zu ihrer ganzen Spannweite aus, fing die Sturmstöße – so gut es eben noch ging – durch die veränderte Stellung der Schwanzfedern und eine flexible Haltung seines Kopfes auf, ließ sich wie ein Blatt im Sturm hin- und herschleudern und spürte, dass in seinen Schwingen winzige Knochen brachen.
Schließlich gönnte der Hurrikan sich eine Atempau se.
Der Flugkünstler erkannte durch Wolkenfetzen und Regenschleier, dass er über festem Land flog. Mit seinen goldgesprenke lten schwarzen Knopfaugen blinzelte er einen baumlosen Hügel, der ihm durch sein nacktes Äußeres aufgefallen war, an und verharrte, glitt unter dem Sturm weg, ließ endlich los – komme, was da wolle.
Die Landung war ruppig. Der weiße Vogel schrammte mit dem Bauch über steinigen Boden, streifte Sträucher, blieb mit den Zehenkrallen an einer seltsam starren Schlange hängen, überschlug sich und purzelte völlig entkräftet in eine grüne Woge, auf der man nicht schwimmen und in die man nicht eintauchen konnte.
Im Schutz der westlichen Flanke des baumlosen Hügels mit den isometrisch exakten Steigungslinien stand ein grünes Hitech-Zelt, blähte sich im Wind und schüttelte Regentropfen ab, die dunkel und dick wie Blaubeeren zu Boden fielen, ohne zu platzen. Wie ein riesiges Vogelnest klebte das Zelt am Hang und wurde von einem Satellitenschwarm kleinerer Iglus umgeben. Die Einzelteile dieser Siedlung waren mit einem Wust von Kabeln und Rohren miteinander vernetzt. Ein armdickes Kabel wand sich gleich einer Nabelschnur ins Innere des Mutterzelts. An seinem anderen Ende surrten zwei mächtige Generatoren. Diese Dieselmotoren wurden nur vom Rauschen des Regens übertönt, der den Menschen im nahen Puerto Morelos an gewöhnlichen Tagen den frühen Abend angekündigt hätte.
Der Regen prasselte auf die Zeltplane, und die blaubeerartigen Tro pfen ließen ein vieltausendfaches Wispern, Raunen und Flüstern erklingen. Es hörte sich an, als erzähle die Sintflut ihre Geschichte. Jeder Tropfen brachte einen Buchstaben mit, die sich in ihrer Gesamtheit zu einer Sinphilonie summierten. Doch wie üblich hörte niemand hin.
Allein der schlummernden Frau auf dem Feldbett unter der Plane s ickerten seltsame Träume in den Schlaf: "Manchmal schneit es noch im Juni, und manchmal strahlt der Mond am Mittag schon; manchmal wachsen aus einem Baumstamm Blumen, und mitunter trieft das Wasser selbst aus Schäfchenwolken. Wir Menschen schenken diesen Dingen kaum Beachtung. Wir beschäftigen uns lieber mit sozialen Netzwerken, Hedge-Fonds oder Ehescheidungen. Da wir für unser Leben nicht minder verantwortlich sind wie jeder Rabe oder Regentropfen für seines, ist das in Ordnung. Doch, wenn die Stimme der Natur, die ja die Zwillingsschwester der inneren Stimme ist, nicht gehört wird, heißt das keineswegs, dass sie nun für immer schweigt oder stumm bleiben wird. Sie wird sich einfach einer anderen ihrer unendlich vielfältigen Ausdrucksformen bedienen. Das erklärt, warum inmitten des anregendsten Datengetümmels, auf dem Höhepunkt der heimlichsten Bankster-Party oder kurz vor Vollendung des verheißungsvollsten Versöhnungskusses, die Welt über deinem Kopf zum Stillstand kommt. Das erklärt, weshalb Wikinger Bücher lesen, nicht alle Maya seekrank werden und Wolken Chemiecocktails weinen. Regentropfen sind weise, Daria, und nun wach endlich auf!"
Die Frau im Zelt schreckte aus ihrem unr uhigen Wachschlaf.
Nein, dieser schwüle und stürmische Morgen auf der mexikanischen Halbinsel Yukatan war kein gewöhnlicher Morgen – weder für das Empfinden eines notgelandeten Flugkünstlers noch für die Trau mschäume
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