Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
irgendwann Drinks draus zu mixen.«
»Aber warum sind es so viele?«
»Als ich jung war, verirrte sich in meinem Bauch ein Embryo auf dem Weg zur Gebärmutter. Er blieb im Eileiter hängen, und ich begann zu bluten. Seitdem kann ich keine Kinder mehr bekommen. Und obwohl es mich glücklich macht, die Kinder anderer Frauen auf die Welt zu holen, habe ich in meinem Leben viele Tränen vergossen. Erst seit du da bist, geht es mir besser.«
Ich schäme mich für meine Frage.
»Eines Tages, als ich wieder einmal viel geweint hatte, fand ich heraus, dass es hilft, Tränen zu trinken, wenn man traurig ist – vor allem, wenn man sie mit Apfelschnaps mischt. Man darf sie allerdings nie trinken, wenn es einem gut geht, denn sonst kann man ohne einen Schluck Tränen kein Glück mehr empfinden und gerät in einen Teufelskreis: Man muss ständig weinen, damit man ab und zu glücklich sein kann.«
»Du reparierst jeden Tag Leute, aber deinen eigenen Kummer ertränkst du in Tränenschnaps. Das verstehe ich nicht.«
»Mach dir um mich keine Sorgen«, sagt sie und bringt ein zuckendes Lächeln zustande. »Und jetzt ab in die Stadt, wir haben einen Geburtstag zu feiern!«
Die Geschichte von Madeleines Tränen hat mich traurig gemacht, und als wir den Berg hinuntergehen, fällt es mir schwer, meine Vorfreude wiederzufinden. Erst als wir am Stadtrand von Edinburgh ankommen, verdrängt meine Aufregung die Gedanken an ihren Kummer.
Ich fühle mich wie Christoph Kolumbus bei der Entdeckung Amerikas. Das Gassengewirr vor mir zieht mich an wie ein Magnet. Ich beginne zu rennen! Die vorbeisausenden Häuserfronten neigen sich einander zu, der Ausschnitt des Himmels über mir wird immer schmaler. Es kommt mir vor, als müsste man nur einmal kräftig pusten, und die aneinandergereihten Häuser würden umstürzen wie Dominosteine. Die Bäume und Büsche haben wir auf dem Berg zurückgelassen, hier schießen dafür überall Menschen aus dem Boden. Frauen platzen auf wie Knospen, Klatschmohnhüte, Klatschmohnkleider! Manche wachsen aus den Fenstern und beugen sich über die Geländer der Balkone. Eine bunte Menschenflut drängt zum Markt und ergießt sich farbenfroh auf den Salisbury Place.
Ich stürze mich ins Getümmel. Hufe klappern über Pflastersteine, Stimmengewirr wühlt mich auf. Das und der Glockenturm, der mich mit einem gewaltigen Schlag seines Herzens begrüßt, das zehnmal größer ist als meins. Ich schaue zu ihm auf und wende mich dann zu Madeleine um, die ganz aus der Puste ist.
»Ist das mein Vater?«
»Nein, mein Junge. Die Turmuhr schlägt jeden Tag um ein Uhr nachmittags ein einziges Mal.«
Wir überqueren den Platz. Als wir in eine Gasse einbiegen, dringt eine fröhlich-melancholische Melodie an mein Ohr, eine Musik wie ein goldener Funkenregen. Die Musik trifft mich mitten ins Herz. In mir herrschen auf einen Schlag zugleich Regen und Sonnenschein.
»Das ist eine Drehorgel. Hübsch, nicht?«, sagt Madeleine. »Sie funktioniert so ähnlich wie dein Herz, wahrscheinlich gefällt dir ihr Klang deshalb so gut. Im Innern des Instruments befindet sich ein Mechanismus, der von Gefühlen angetrieben wird.«
Noch nie in meinem Leben habe ich eine so schöne Melodie gehört, aber das ist nicht die einzige Überraschung, die mich erwartet: Ein kleines Mädchen, das mich an ein blühendes Bäumchen erinnert, stellt sich vor die Drehorgel und beginnt zu singen. Ihre Stimme klingt wie das Trällern einer Nachtigall, nur mit Worten.
Tja, meine Brille ist verlegt,
Doch hat mich das nicht aufgeregt,
Ich setz sie nicht so gerne auf,
Denn damit seh ich albern aus!
Ihre schlanken Arme sind feine Äste, und ihre schwarzen Locken umtanzen ihr Gesicht wie feurig lodernde Schatten. Ihre perfekte Nase ist so klein, dass ich mich frage, wie sie damit atmen kann – vielleicht ist sie nur Dekoration. Jetzt beginnt sie sich auf ihren Stöckelschuhen zu drehen, und ihr Tanz erinnert mich an einen leicht im Wind schwankenden Vogel. Ihre Augen sind so groß, dass man wohl alle Zeit der Welt bräuchte, um auf ihren tiefschwarzen Grund zu gelangen. Da flammt in ihnen plötzlich wilde Entschlossenheit auf, sie reißt den Kopf hoch wie die Miniaturausgabe einer Flamencotänzerin. Ihre Brüste sind zwei kleine Baisers, so wohlgeformt, dass es unhöflich wäre, sie nicht auf der Stelle zu vernaschen.
Verschwommen sehen ist nicht schlimm!
Denn so viel lieber ohnehin,
Hab ich beim Tanzen und beim Küssen,
die blinden Augen fest
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