Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
sing dir etwas vor.«
Er stimmt Oh When the Saints an und begleitet sich auf seinem Knochen-Xylophon. Seine Stimme wärmt mich wie ein Kaminfeuer an einem kalten Winterabend.
Bevor er wenig später wieder geht, öffnet er seine Umhängetasche und lässt mich einen Blick hineinwerfen: Sie ist voller Hühnereier.
»Warum trägst du so viele Eier mit dir herum?«
»Weil sie voller Erinnerungen stecken. Meine Frau war eine Meisterin im Eierkochen, und immer wenn ich mir ein Ei zubereite, habe ich das Gefühl, wieder bei ihr zu sein.«
»Und, bist du im Eierkochen so gut wie sie?«
»Nein, meine Eier schmecken scheußlich, aber sie halten die Erinnerung wach. Du kannst dir eins nehmen, wenn du willst.«
»Aber dann fehlt dir doch eine Erinnerung!«
»Mach dir keine Sorgen, ich habe eh zu viele davon. Und nicht alle sind schön. Das verstehst du jetzt vielleicht noch nicht, aber keine Sorge, eines Tages wirst du glücklich sein, wenn du deine Tasche aufmachst und auf eine Erinnerung aus deiner Kindheit stößt.«
Eins weiß ich jedenfalls jetzt schon: Immer wenn ich künftig die ersten Moll-Akkorde von Oh When the Saints höre, wird sich der düstere Nebel meiner Sorgen für ein paar Momente verflüchtigen.
Seit meinem fünften Geburtstag stellt mich Doktor Madeleine keinen Kunden mehr vor. Dafür stelle ich mir mit der Zeit immer mehr Fragen.
Mein Wunsch, die Stadt am Fuß des Bergs zu erkunden, wird zur Obsession. Nachts klettere ich oft auf das Dach unseres Hauses, sitze reglos da und lausche dem fernen Rauschen. Mondlicht fällt auf die verwinkelten Gassen unter mir und umgibt sie mit einem zuckrigen Heiligenschein, in den ich am liebsten hineinbeißen würde.
Madeleine sagt aber immer nur, ich würde die harte Wirklichkeit der Stadt schon früh genug kennenlernen.
»Hab etwas Geduld! Jeder deiner Herzschläge ist ein kleines Wunder. Du weißt, meine Konstruktion ist nicht die stabilste. Aber je älter du wirst, desto weniger wirst du sie brauchen.«
»Wie oft muss sich mein Stundenzeiger bis dahin noch drehen?«
»Ziemlich oft. Bevor ich dich in die Welt entlasse, muss dein Herz noch viel stärker werden.«
Zugegebenermaßen macht mir meine Uhr oft Ärger. Sie ist mein empfindlichster Körperteil, und niemand außer Madeleine darf sie anfassen. Doktor Madeleine zieht die Uhr jeden Morgen mit einem winzigen Schlüssel auf. Wenn ich mich erkälte, tun mir beim Husten die Zahnräder weh, es fühlt sich an, als würden sie meine Haut von innen durchbohren. Ich hasse das Geräusch von zerspringendem Geschirr in meiner Brust.
Am meisten ärgert mich aber meine ganz persönliche Zeitverschiebung. Abends im Bett hält mich das Ticken, das durch meinen Körper hallt, vom Schlafen ab. Deshalb nicke ich nachmittags oft im Stehen ein und bin dann mitten in der Nacht hellwach. Aber ich bin weder ein Hamster noch ein Vampir, ich bin einfach nur ein nachtaktiver Junge.
Gut, es hat auch seine Vorteile, unter einer schweren Krankheit zu leiden. Ich liebe es beispielsweise, wenn Madeleine sich im Nachthemd wie ein Gespenst mit einer Tasse heißem Kakao in der Hand in mein Zimmer stiehlt und mir ein gruseliges Schlaflied singt. Manchmal summt sie mir bis zum Morgengrauen etwas vor und streicht mir dabei sanft über das Uhrengehäuse. In diesen süßen Augenblicken fühle ich mich ganz und gar geborgen.
» Love is dangerous for your tiny heart «, flüstert sie dann immer wieder, als wäre das ein uralter Zauberspruch, der den Schlaf herbeilocken soll.
Ich liebe es, ihr zuzuhören und dabei in den sternhagelvollen Himmel zu sehen, auch wenn ich es etwas merkwürdig finde, wie sie immer wieder » love is dangerous for your tiny heart « flüstert.
An meinem zehnten Geburtstag erklärt sich Doktor Madeleine endlich dazu bereit, mich mit in die Stadt zu nehmen. Ich habe so lange darum gebettelt … Trotzdem kann sie es sich nicht verkneifen, den Aufbruch bis zuletzt hinauszuzögern: Sie läuft von einem Zimmer ins nächste und räumt wahllos Dinge hin und her.
Während ich unten mit den Füßen scharre, fällt mein Blick auf ein Regal mit Einmachgläsern. Die meisten enthalten nur »Äpfel aus dem Garten«, aber auf einigen, die so weit oben stehen, dass ich nicht herankomme, kleben Etiketten mit der Aufschrift »Tränen 1850–1857«.
»Von wem sind die ganzen Tränen?«, frage ich Madeleine, als sie endlich kommt.
»Von mir. Immer wenn ich weine, sammle ich meine Tränen in einem Glas und lagere sie hier unten, um
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