Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
dürfen.
Doktor Madeleine schneidet mir mit einer großen Zackenschere den Oberkörper auf. Die winzigen Zähne kitzeln ein wenig. Sie schiebt mir vorsichtig die Kuckucksuhr in den Brustkasten und beginnt damit, meine Schlagadern an das stillstehende Uhrwerk anzuschließen. Es ist eine heikle Arbeit, und Madeleine muss aufpassen, dass sie nichts beschädigt. Sie näht Uhr und Herz mit hauchdünnen Stahlfäden zusammen und zurrt alles mit mehreren klitzekleinen Knoten fest. Ab und zu krampft sich mein schwaches Herz leicht zusammen, aber es pumpt nicht genug Blut durch meine Adern.
»Er ist furchtbar blass!«, murmelt Doktor Madeleine.
Dann schlägt die Stunde der Wahrheit. Madeleine zieht die Kuckucksuhr in meiner Brust mit einem kleinen Schlüssel auf und stellt die Zeiger auf Mitternacht. Sie wartet. Nichts geschieht. Das Uhrwerk ist nicht stark genug, um den Herzschlag auszulösen. Mein Herz steht schon gefährlich lange still. Ich bin in einem dunklen Traum gefangen, der mit jeder Sekunde dunkler wird. Doktor Madeleine spannt die Feder ein zweites Mal, um mein mechanisches Herz in Gang zu setzen.
»Ticktack«, macht die Uhr.
»Bubumm«, antwortet endlich das Herz, und die Arterien färben sich rot.
Langsam beschleunigt sich das Wechselspiel von Ticktack und Bubumm. Ticktack. Bubumm. Ticktack. Bubumm. Mein Herz schlägt jetzt fast so schnell, wie es soll. Vorsichtig zieht Doktor Madeleine ihre Finger zurück. Das Ticken verlangsamt sich wieder. Sie dreht behutsam an den Zahnrädern, um dem Uhrwerk auf die Sprünge zu helfen, aber sobald sie loslässt, wird der Herzschlag schwächer. Es ist, als entschärfe sie eine Bombe, die jeden Moment zu explodieren droht.
Ticktack. Bubumm. Ticktack. Bubumm.
Draußen fallen die ersten Sonnenstrahlen auf den Schnee und stehlen sich durch die Fensterläden herein. Doktor Madeleine ist am Ende ihrer Kräfte. Ich bin eingeschlafen. Vielleicht stand mein Herz auch einfach zu lange still, und ich bin tot.
Plötzlich erschallt ein »Kuckuck« aus meiner Brust. So laut, dass ich vor Schreck husten muss. Ich reiße die Augen weit auf und sehe Doktor Madeleine: Sie hat die Arme hochgeworfen, als hätte sie im Endspiel der Weltmeisterschaft einen Elfmeter verwandelt.
Dann näht sie meinen immer noch offenen Brustkorb mit dem Geschick einer Schneidermeisterin wieder zusammen. Man sieht die Nähte kaum. Über das Zifferblatt und die perfekt eingepasste Holzfront klebt sie ein großes Pflaster. Von nun an muss meine kleine Uhr jeden Morgen mithilfe eines Schlüssels aufgezogen werden, sonst hat mein letztes Stündlein geschlagen.
Meine Mutter sitzt immer noch reglos auf dem Bett. Sie meint, ich sähe aus wie eine große Schneeflocke mit Zeigern. Madeleine antwortet nur, so könne man mich im Schneegestöber wenigstens nicht aus den Augen verlieren.
Es ist Mittag, als Doktor Madeleine ihre Patientin verabschiedet, und wie immer lächelt sie im Angesicht der Katastrophe. Meine Mutter setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ihre Mundwinkel zittern. Sie bewegt sich wie eine alte Frau im Körper eines jungen Mädchens. Als meine Mutter kurz darauf mit dem Nebel verschmilzt, verwandelt sie sich in ein Porzellangespenst. Seit jenem bizarren, wunderbaren Tag habe ich sie nicht mehr wiedergesehen.
2
oktor Madeleine empfängt jeden Tag Besucher. Meist sind es Patienten. Alle, die sich keinen richtigen Arzt leisten können, wenn sie sich etwas gebrochen haben, landen früher oder später bei ihr. Am liebsten repariert sie die Herzen der Leute – sei es durch Herumschrauben oder durch ein längeres Gespräch. Ich komme mir erfreulich normal vor, wenn sich einer ihrer Patienten mal wieder über seine rostende Wirbelsäule beschwert.
»Sie ist aus Eisen, und Eisen rostet nun mal!«
»Ich weiß, aber sie quietscht erbärmlich, sobald ich den Arm hebe.«
»Deshalb habe ich Ihnen beim letzten Mal ja auch einen Regenschirm verschrieben. Ausnahmsweise leihe ich Ihnen heute meinen. Aber besorgen Sie sich bis zum nächsten Mal einen eigenen.«
Neben den Patienten kommen immer wieder junge, gut betuchte Paare zu uns auf den Berg, die keine eigenen Kinder bekommen können und deshalb eins von denen adoptieren wollen, die von ihren Müttern hier zurückgelassen werden. Das läuft ein bisschen so ab wie bei einer Wohnungsbesichtigung. Madeleine preist die Vorzüge der verschiedenen Kinder: Das eine weint niemals, ein anderes isst immer brav sein Gemüse, und ein drittes ist sogar schon
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