Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Boden. Vor mir sehe ich immer noch dieses Bäumchen von einem Mädchen, dieses Feuervögelchen, das ohne Brille singt und der Sonne unerschrocken ins Auge blickt. Unabsichtlich habe ich mein Herz an sie verloren. Unabsichtlich absichtlich. In meiner Uhr ist der heißeste Tag aller Zeiten.
    Nachdem sie eine Viertelstunde an mir herumgeschraubt und mir eine kräftige Hühnerbrühe eingeflößt hat, gelingt es Madeleine, mich in meinen normalen Ausnahmezustand zurückzuversetzen.
    Sie sieht müde aus, wie in den Nächten, in denen sie zu lange aufbleibt, um mich in den Schlaf zu singen – doch jetzt zerfurchen Sorgenfalten ihr Gesicht.
    »Deine Uhr ist eine Prothese, aber sie ist genauso empfindlich wie jedes andere Herz. Das wird sich nie ändern. Zahnräder filtern Gefühle nicht so gut wie menschliches Gewebe, darum musst du vorsichtig sein. Was da vorhin in der Stadt passiert ist, als du die kleine Sängerin gesehen hast, bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen: Wenn du dich verliebst, setzt du dein Leben aufs Spiel.«
    »Ihr Mund ist wunderschön, ich konnte gar nicht mehr wegsehen.«
    »Sag so was nicht!«
    »Das Spiel ihrer Grübchen ist unendlich schön, und ihr Lächeln vervielfältigt die Variationsmöglichkeiten. Am liebsten würde ich sie mein Leben lang ansehen.«
    »Du weißt nicht, auf was du dich da einlässt! Für dich ist das alles nur ein Spiel, aber es ist gefährlich, ein Spiel mit dem Feuer, vor allem für jemanden mit einem Herzen aus Holz. Erinnerst du dich daran, wie sehr dir beim Husten immer die Zahnräder wehtun?«
    »Ja.«
    »Nun, dieser Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem, den die Liebe verursacht. Jeden Augenblick der Freude und des Glücks bezahlst du früher oder später mit Schmerz, und je stärker man liebt, desto größer ist der Schmerz. Du wirst vor Sehnsucht vergehen und vor Eifersucht verrückt werden, du wirst dich unverstanden, abgewiesen und ungerecht behandelt fühlen. Dir wird kalt bis in die Knochen sein, und dein Blut wird zu Eiswürfeln gefrieren, die dir die Adern von innen aufschlitzen. Und dann wird die Mechanik deines Herzens explodieren. Ich habe dir die Kuckucksuhr eigenhändig eingesetzt, ich weiß genau, was sie aushalten kann und was nicht. Sie mag stark genug sein für die Freuden der Liebe, schon möglich. Aber auf keinen Fall verkraftet sie die Qualen.«
    Madeleine lächelt wehmütig – wie immer lässt der eigentümliche Wackelkontakt ihre Mundwinkel zucken. Ihre Wut ist verflogen.

3
    as süße Mysterium, das die kleine Sängerin umgibt, versetzt mich auch Tage später noch in Hochstimmung. In Gedanken sammle ich Bilder von ihren langen Wimpern, ihren Grübchen, ihrer perfekten Nase und dem Schwung ihrer Lippen. Ich hege und pflege die Erinnerung an sie wie ein zartes Pflänzchen.
    Ich kann an nichts anderes mehr denken: Ich muss sie wiedersehen. So schnell wie möglich will ich dieses unbeschreibliche Gefühl noch einmal spüren. Vielleicht huste ich mir den Kuckuck aus dem Hals, vielleicht muss mein Herz wieder und wieder repariert werden. Na und? Madeleine schraubt sowieso ständig an dem Ding herum. Vielleicht riskiere ich den Tod. Mag sein, aber wenn ich die kleine Sängerin nicht wiedersehe, riskiere ich mein Leben, und in meinem Alter ist das viel schlimmer.
    Jetzt verstehe ich, warum Doktor Madeleine mich so lange wie möglich von der Außenwelt fernhalten wollte. Wenn man den Geschmack von Erdbeeren mit Sahne nicht kennt, will man auch nicht ständig welche haben.
    In manchen Nächten besucht mich die kleine Sängerin im Traum. Heute ist sie zwei Zentimeter groß. Sie schlüpft durch das Schlüsselloch meines Herzens, setzt sich rittlings auf den Stundenzeiger und sieht mich mit ihren großen Rehaugen an. Selbst im Schlaf raubt mir ihr Anblick den Atem. Sachte, ganz sachte fährt sie mit der Zunge über den Minutenzeiger meines Herzens. Etwas Mechanisches setzt sich in Gang, und ich bin nicht sicher, ob es nur mein Herz ist … KLICK KLOCK DONG ! KLICK KLOCK DONG ! Verdammter Kuckuck! Ich schrecke hoch.
    » Love is dangerous for your tiny heart even in your dreams, so please dream softly «, flüstert mir Madeleine ins Ohr. »Schlaf jetzt …«
    Als ob das mit einer Kuckucksuhr in der Brust so einfach wäre!
    Am nächsten Morgen werde ich von lautem Hämmern geweckt. Madeleine steht auf einem Stuhl und schlägt einen Nagel in die Wand. Sie hält eine Schiefertafel zwischen den Zähnen und macht ein wild entschlossenes Gesicht. Der Lärm ist