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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Ausschluss gerufen: »Ich gehe, aber ihr tätet gut daran, wenn ihr auch diesem Fadenflicker den Prozess machen würdet.« Was davon der Wahrheit entsprach, wusste niemand mit völliger Gewissheit. Fest stand nur, dass man beide wegen verbotenen Umgangs mit Magie aus der Gilde geworfen hatte.
    Ein Zauberer, durchfuhr es Merle aufgeregt, obwohl sie schon seit Tagen an kaum etwas anderes dachte. Arcimboldo ist ein echter Zauberer!
    Mit einem Knirschen wurde die Tür der Spiegelwerkstatt geöffnet, und eine wunderliche Frau erschien auf dem Gehweg. Ihr langes Haar war zu einem Knoten hochgesteckt. Sie trug lederne Hosen, die ihre schlanken Beine betonten. Darüber schlackerte eine weite Bluse, durchzogen von silbernen Fäden - ein solch feines Stück hätte Merle eher am gegenüberliegenden Kanalufer in der Weberwerkstatt erwartet, nicht aber im Hause Arcimboldos.
    Das Ungewöhnlichste aber war die Maske, hinter der die Frau einen Teil ihres Gesichts verbarg. Der letzte Karneval von Venedig - früher weltberühmt - hatte vor fast vier Jahrzehnten stattgefunden. Das war 1854 gewesen, drei Jahre nachdem Pharao Amenophis in der Stufenpyramide von Amun-Ka-Re zu neuem Leben erwacht war. Heute, in Zeiten des Krieges, der Not und der Belagerung, gab es keinen Anlass zur Verkleidung.
    Und dennoch trug die Frau eine Maske, geformt aus Papier, glasiert und kunstvoll verziert. Zweifellos die Arbeit eines venezianischen Künstlers. Sie bedeckte ihre untere Gesichtshälfte bis hinauf zum Nasenrücken. Ihre Oberfläche war schneeweiß und glänzte wie Porzellan. Der Maskenmacher hatte einen kleinen, fein geschwungenen Mund mit dunkelroten Lippen darauf gemalt.
    »Unke«, sagte die Frau und fuhr mit fast unmerklichem Lispeln fort: »Das ist mein Name.«
    »Merle. Und das ist Junipa. Wir sind die neuen Lehrlinge.«
    »Natürlich, wer sonst?« Nur Unkes Augen verrieten, dass sie lächelte. Merle überlegte, ob eine Krankheit das Gesicht der Frau entstellt haben könnte.
    Unke ließ die Mädchen eintreten. Hinter der Tür lag eine weite Eingangshalle, wie in den meisten Häusern der Stadt. Sie war nur spärlich möbliert, die Wände verputzt und ohne Tapete - Vorsichtsmaßnahmen wegen des Hochwassers, das Venedig in manchen Wintern heimsuchte. Das häusliche Leben der Venezianer spielte sich im ersten und zweiten Stock ab, die Erdgeschosse blieben karg und ungemütlich.
    »Es ist spät«, sagte Unke, als wäre ihr Blick auf eine Uhr gefallen. Doch Merle konnte nirgends eine entdecken. »Arcimboldo und die älteren Schüler sind um diese Zeit in der Werkstatt und dürfen nicht gestört werden. Ihr werdet sie morgen kennen lernen. Ich zeige euch euer Zimmer.«
    Merle konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie hatte gehofft, dass sie und Junipa sich ein Zimmer teilen würden. Sie sah, dass auch das blinde Mädchen sich über Unkes Worte freute.
    Die maskierte Frau führte sie die Stufen einer geschwungenen Freitreppe empor. »Ich bin die Haushälterin der Werkstatt. Ich koche für euch und wasche eure Sachen. Vermutlich werdet ihr mir in den ersten Monaten dabei zur Hand gehen, das verlangt der Meister oft von den Neuankömmlingen - zumal ihr die einzigen Mädchen im Haus seid.«
    Die einzigen Mädchen? Dass alle anderen Lehrlinge Jungen sein könnten, war Merle bislang überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Umso erleichterter war sie, dass sie ihre Lehrzeit gemeinsam mit Junipa begann.
    Das blinde Mädchen war nicht allzu gesprächig, und Merle vermutete, dass sie es im Waisenhaus nicht leicht gehabt hatte. Merle hatte nur zu oft miterlebt, wie grausam Kinder sein können, vor allem zu jenen, die sie für schwächer halten. Junipas Blindheit war sicherlich nicht selten Anlass für gemeine Streiche gewesen.
    Die Mädchen folgten Unke einen langen Gang hinunter. An den Wänden hingen zahllose Spiegel. Die meisten waren aufeinander gerichtet: Spiegel in Spiegeln in Spiegeln. Merle bezweifelte, dass es sich dabei um Arcimboldos berühmte Zauberspiegel handelte, denn sie konnte nichts Ungewöhnliches daran entdecken.
    Nachdem Unke ihnen allerlei über Essenszeiten, Ausgang und Verhalten im Haus erklärt hatte, fragte Merle:
    »Wer kauft eigentlich Arcimboldos Zauberspiegel?«
    »Du bist neugierig«, stellte Unke fest und ließ offen, ob ihr diese Erkenntnis missfiel.
    »Reiche Leute?«, hakte Junipa nach und strich sich gedankenverloren über das glatte Haar.
    »Vielleicht«, erwiderte Unke. »Wer weiß?« Damit ließ sie das Thema fallen,

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