Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
leuchtend grün, wirkte hier dunkler und tiefer. Die Kluft zwischen den alten Häusern war so eng, dass kaum Tageslicht an die Wasseroberfläche drang. Auf den Wellen, die die Gondel verursachte, schaukelten träge ein paar Vogelfedern.
Merle hatte eine vage Vorstellung von dem, was sie erwartete. Man hatte es ihr im Waisenhaus erklärt und dabei immer wieder erwähnt, wie dankbar sie sich schätzen durfte, dass man sie hierher in die Lehre schickte. An diesem Kanal, in diesem Schacht aus grüngrauem Halblicht, würde sie die nächsten Jahre verbringen.
Die Gondel näherte sich den bewohnten Häusern. Merle lauschte angespannt, konnte aber nichts hören außer einem entfernten Rumoren unverständlicher Stimmen. Als sie zu Junipa hinüberschaute, sah sie, dass jeder Muskel im Körper des blinden Mädchens angespannt war; sie hatte die Augen geschlossen, ihre Lippen formten stumme Worte - vielleicht jene, die sie mit ihren geschulten Ohren aus dem Gesäusel heraushörte. Wie die Bewegungen eines Teppichknüpfers, der mit spitzer Nadel gezielt einen einzigen Faden zwischen tausend anderen hervorfischt. Junipa war in der Tat ein ungewöhnliches Mädchen.
Das Gebäude zur Linken beherbergte die Weberei des berühmten Umberto. Es galt als gottlos, Kleidung zu tragen, die er und seine Schüler gefertigt hatten; zu schlecht war sein Ruf, zu bekannt sein Zwist mit der Kirche. Jene Damen aber, die sich heimlich Mieder und Kleider von ihm herstellen ließen, schworen hinter vorgehaltener Hand auf deren magische Wirkung.
»Umbertos Kleider machen schlank«, erzählte man sich in Venedigs Salons und Gassen. Wirklich schlank. Denn wer sie trug, sah nicht nur dünner aus - er war es tatsächlich, so als zehrten die magischen Fäden des Webermeisters vom Fett all jener, die von ihnen umhüllt wurden. Die Priester in Venedigs Kirchen hatten mehr als einmal gegen das unheilige Treiben des Webers gewettert, so laut und hasserfüllt, dass die Handwerksgilde Umberto schließlich aus ihren Reihen verstieß.
Doch nicht allein Umberto hatte den Zorn der Gilde zu spüren bekommen. Gleiches galt für den Herrn des gegenüberliegenden Hauses. Auch darin war eine Werkstatt untergebracht, und auch sie stand auf ihre Art im Dienste der Schönheit. Allerdings wurden hier keine Kleider gewebt, und ihr Meister, der ehrenwerte Arcimboldo, hätte wohl lautstark protestiert, wäre er offen mit seinem Erzfeind Umberto in Verbindung gebracht worden.
Arcimboldos Götterglas stand in goldenen Lettern über der Tür, und gleich daneben hing ein Schild:
Zauberspiegel für gute und böse Stiefmütter, für schöne und hässliche Hexen und jederlei lauteren Zweck
»Wir sind da«, sagte Merle zu Junipa, während ihr Blick zum zweiten Mal über die Worte strich. »Arcimboldos Zauberspiegelwerkstatt.«
»Wie sieht sie aus?«, fragte Junipa.
Merle zögerte. Es fiel nicht ganz leicht, ihren ersten Eindruck zu schildern. Düster war das Haus, gewiss, wie der ganze Kanal und seine Umgebung, doch neben der Tür stand ein Kübel mit bunten Blumen, ein freundlicher Klecks im grauen Zwielicht. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Merle, dass die Blüten aus Glas waren.
»Besser als das Waisenhaus«, sagte sie etwas unentschlossen.
Die Stufen, die von der Wasseroberfläche zum Gehweg führten, waren glitschig. Der Gondoliere half ihnen beim Aussteigen. Sein Geld hatte er bereits erhalten, als er die Mädchen in Empfang genommen hatte. Ehe er mit seiner Gondel langsam davonglitt, wünschte er den beiden noch Glück.
Ein wenig verloren standen sie da, jede mit einem halb vollen Bündel in der Hand, gleich unter dem Schild, das Zauberspiegel für böse Stiefmütter feilbot. Merle war unschlüssig, ob sie dies für einen guten oder schlechten Auftakt ihrer Lehrzeit halten sollte. Vermutlich lag die Wahrheit irgendwo dazwischen.
Hinter einem Fenster der Weberwerkstatt am anderen Ufer huschte ein Gesicht vorüber, dann ein zweites. Neugierige Lehrlinge, vermutete Merle, die einen Blick auf die Ankömmlinge warfen. Feindliche Lehrlinge, so man den Gerüchten Glauben schenkte.
Arcimboldo und Umberto hatten sich nie gemocht, das war kein Geheimnis, und auch ihr zeitgleicher Ausschluss aus der Handwerksgilde hatte daran nichts geändert. Ein jeder gab dem anderen die Schuld. »Was werft ihr mich heraus und nicht diesen verrückten Spiegelmacher?«, sollte Umberto laut Arcimboldo gefragt haben, während der Weber wiederum behauptete, Arcimboldo hätte bei seinem
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