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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Sogar Lalapeja half mit, auch wenn Serafin nicht sicher war, ob sie nicht die Gelegenheit nur nutzte, um erneut die Hände ins Wasser zu tauchen und dort nach weiß der Himmel was zu tasten.
    Noch zwei Meter.
    Noch einen.
    Die Hornschale schlug gegen den Fischschwanz der Hexe. Die Schuppen waren groß wie Wagenräder, überzogen mit Tang und Schlick und Algen, die sich in den Ritzen festgesetzt hatten. Der Gestank raubte ihnen den Atem, die Jungen schluckten und kämpften mit Brechreiz, ehe sich ihre Nasen und Mägen allmählich daran gewöhnten. Nur Unke und die Sphinx schienen immun dagegen zu sein.
    Niemand wollte der Erste sein, der Hand an den schuppigen Schwanz legte. Sogar Unke starrte leichenblass auf die tote Hexe, obgleich Serafin argwöhnte, dass sie andere Gründe dafür hatte. Später, sagte er sich. Nicht jetzt. Nicht noch eine Sorge mehr.
    Er fasste sich ein Herz, hielt sich an Darios Schulter fest, balancierte einen Moment lang in der schwankenden Schale und packte dann mit der Rechten den Rand einer Schuppe. Die schorfigen Hornplatten waren angeordnet wie Dachziegel, überlappten einander und boten genug Halt für Finger und Füße. Wäre nicht der entsetzliche Gestank gewesen, Serafin hätte sich beinahe heimisch gefühlt: In seinem Leben war er so viele Dächer hinauf- und hinuntergeklettert, dass das Erklimmen des Fischschwanzes ein Kinderspiel war.
    Er kam oben an, drehte sich um und blickte an der Wölbung hinab zum Schildkrötenpanzer. Von hier war noch deutlicher zu erkennen, wie tief die Hornschale bereits im Wasser lag. Unkes Schätzung war mehr als großzügig gewesen. Serafin bezweifelte, dass sie sich noch länger als eine Stunde über Wasser gehalten hätten.
    Er konnte den anderen nicht helfen, konnte nur zusehen, wie sie der Reihe nach über den Rand des Panzers kletterten, mit bebenden Händen nach den Schuppen griffen und mehr schlecht als recht versuchten, auf dem rutschigen Untergrund Halt zu finden. Das Gewirr aus abgestorbenen Wasserpflanzen war glatt wie Schmierseife, aber irgendwie gelang es schließlich allen, den höchsten Punkt der Schwanzwulst zu erreichen. Zuletzt verließ Unke den Schildkrötenpanzer. Serafin und Dario reichten ihr die Hände, um sie zu sich heraufzuziehen.
    Die Hornschale schaukelte noch eine Weile länger neben dem Leichnam, dann wurde sie von einer Strömung erfasst und davongetragen. Aristide und Tiziano blickten ihr hinterher, aber Serafins Aufmerksamkeit galt jetzt allein dem riesenhaften Körper, auf dem sie gestrandet waren.
    Den Brechreiz hatte er überwunden, aber der Ekel blieb. Nie im Leben hatte er etwas so Abscheuliches gesehen. Vorsichtig richtete er sich auf und machte einige Schritte über die Kuppe des Fischschwanzes in Richtung Oberkörper.
    Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter.
    »Lass mich vorgehen«, sagte Unke, trat an ihm vorüber und übernahm die Führung. Die anderen, Lalapeja eingeschlossen, blieben auf dem Schwanz zurück. Solange der Kadaver ruhig im Wasser lag, konnte ihnen dort nichts geschehen, und Serafin genoss für einen Moment die Stille an der Seite der schweigsamen Unke.
    Sobald sie die Schuppen verlassen hatten, änderte sich die Konsistenz des Untergrundes. Der Bauch der Hexe war weich und schwammig, bei jedem Schritt füllten sich die Vertiefungen um Serafins Sohlen mit Feuchtigkeit. Er war oft über Venedigs Plätze gelaufen, wenn dort Märkte abgebaut worden waren; das Pflaster war dann übersät mit einer knöchelhohen Schicht aus verfaultem Obst und Gemüse - es hatte sich unter seinen Füßen ganz ähnlich angefühlt.
    Sie wanderten durch die Senke zwischen den Rippen. In lang gestreckten Pfützen hatte sich Wasser gesammelt, allerlei Kleintiere tummelten sich darin.
    Von hier aus erkannte Serafin das Kinn der Hexe, ein spitzer Kegel über mehreren breiten Wülsten. Dahinter wurden die Nasenlöcher sichtbar, zwei Höhlenöffnungen unter einem scharfen Grat aus Haut und Knorpel.
    Eine breite Narbe teilte das Kinn, überwuchert von wildem Fleisch. Unke sah sie und blieb stehen.
    »Was ist?« Serafin blickte sich instinktiv in alle Richtungen um. Nirgends drohte Gefahr, wenigstens keine, die er benennen konnte.
    Unkes Gesicht war trotz des mühsamen Marsches kalkweiß.
    »Unke«, sagte er beschwörend, »was ist los?«
    »Sie ist es.«
    Er runzelte die Stirn und spürte zugleich, wie sich sein Magen verkrampfte. »Sie?«
    Unke sah ihn beim Sprechen nicht an, starrte nur auf die hässliche Narbe,

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