Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
»Nicht böse. Nur alt. Unvorstellbar alt. Der erste Sohn der Mutter.« Sie zog die Hand aus dem Wasser, starrte einen Moment lang darauf, als wäre sie das Körperteil eines anderen, dann fuhr sie fort: »Er lag schon dort unten, als es noch kein Ägypten gab - und ich meine das alte Ägypten! Zu einer Zeit, als andere Mächte die Welt beherrschten, die Subozeanischen Kulturen und die Herren der Tiefe und…« Sie brach ab, schüttelte den Kopf und setzte neu an: »Er liegt dort seit langer Zeit. Damals lebten keine Menschen in der Lagune, und man brachte ihn dorthin, damit niemand seine Ruhe stören würde. Er war ein Gott, zumindest nach euren Maßstäben, auch wenn ihn damals niemand so genannt hat. Und man wollte sichergehen, dass er für immer ungestört bleiben würde. Deshalb wurden Wächter eingesetzt, um ihn zu beschützen.«
»Wächter wie du«, sagte Serafin.
Die Sphinx nickte und sah dabei unendlich schön aus in ihrer Trauer. »Ich war nicht die Erste, aber das spielt keine Rolle. Ich bewache die Lagune seit so langer Zeit, dass ich es aufgegeben habe, die Jahre zu zählen. Ich bin hergekommen, als es noch keine Stadt gab, nicht einmal Häuser oder Fischerhütten. Aber dann sah ich zu, wie die Menschen kamen, wie sie die Inseln in Besitz genommen und sich darauf angesiedelt haben. Vielleicht hätte ich es verhindern müssen, wer weiß? Aber ich habe euch Menschen immer gemocht, und ich sah nichts Falsches daran, dass ihr dort leben solltet, wo er begraben lag. Ich habe getan, was ich konnte, um seine Ehre und Ruhe zu bewahren. Ich war es, die dafür gesorgt hat, dass San Michele zu einem Friedhof auch für euch Menschen wurde. Und ich gab mir Mühe, den Meerjungfrauen eine Freundin zu sein, denn sie sind die wahren Beherrscher der Lagune - oder sind es zumindest immer gewesen, bis sich die Menschen einen Spaß daraus machten, sie zu fangen und zu töten oder vor ihre Boote zu spannen.«
Unke hörte schon seit geraumer Weile aufmerksam zu, und jetzt nickte sie zustimmend. »Du hast uns den Friedhof der Meerjungfrauen geschenkt. Einen Ort, den die Menschen nicht finden konnten. Bis heute.«
»Ich habe nur das getan, was ich am besten kann«, sagte Lalapeja. »Ich habe die Toten bewacht. So, wie ich es seit Jahrtausenden tue. Und es war einfach. Erst musste ich nur da sein, nur warten. Dann war es an der Zeit, ein Haus zu bauen, schließlich einen Palast, alles, um nicht aufzufallen, um niemandem Grund zum Misstrauen zu geben.« Sie senkte den Blick, und einen Moment lang schien es, als wollte sie wieder mit der Hand ins Wasser reichen, beinahe wehmütig, schuldbewusst. »Als die Lagune noch unbewohnt war, da machte mir die Einsamkeit nichts aus. Das kam erst später, als all die anderen auftauchten, die Meerjungfrauen und Menschen. Und natürlich die Fließende Königin. Ich musste mit ansehen, wie es ist, Freunde zu haben, anderen zu vertrauen. Deshalb habe ich den Meerjungfrauen einen Ort für ihre Toten gegeben, aber auch sie sind mir aus dem Weg gegangen.«
»Wir haben dich geehrt«, sagte Unke.
»Geehrt!« Lalapeja seufzte leise. »Ich wollte Freundschaft und bekam stattdessen Ehre. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Ich war immer noch einsam, und wäre es geblieben, wenn nicht…« Sie verstummte. »Egal. Als der große Krieg begann, als die Ägypter sich die Völker Untertan machten, da wusste ich, dass es an der Zeit war zu handeln. Ich hörte, dass sie die Macht besitzen, die Toten zum Leben zu erwecken und zu versklaven - und da endlich verstand ich, dass ich, ohne es zu ahnen, all die Zeitalter über auf diesen einen Moment gewartet hatte. Alles machte plötzlich einen Sinn. Wenn es den Ägyptern gelänge, den Gott, wie ihr ihn genannt habt, zu ihrem Werkzeug zu machen… wenn ihnen das tatsächlich gelänge, ja, dann wären sie wahrlich die Herrscher der Welt.«
»Aber welche Rolle spielen die Sphinx-Kommandanten bei der Sache?«, fragte Dario.
»Ich zweifle nicht mehr daran, dass der Pharao längst nur noch eine Marionette der Sphinxe ist«, sagte Lalapeja nachdenklich. »Die Kommandanten sind im Vergleich zu mir und einigen anderen meines Volkes jung, und sie haben keinen Respekt mehr vor den alten Gesetzen und Bräuchen. Sie haben die Macht erkannt, die der Gott ihnen schenken wird. Wäre die Fließende Königin nicht gewesen, hätten sie ihr Ziel schon viel früher erreicht.«
Serafin nickte langsam. Das also war es. Die Sphinxe hatten all die Jahre über im Hintergrund
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