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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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lang wie ein Pferdegespann. »Die Hexe, die mir meinen kalimar genommen hat.«
    »Deinen Schuppenschwanz?«
    Sie nickte. »Ich habe sie darum gebeten, und sie hat mir dafür die Beine eines Menschen gegeben.«
    »Warum?«
    Unke atmete scharf ein und aus, dann erzählte sie Serafin die Geschichte ihrer ersten großen Liebe; von dem Kaufmannssohn, der ihr ewige Treue geschworen, sie dann aber schmählich verraten hatte; von der Warnung der Hexe, dass sie zwar Unkes Beine verwandeln könne, nicht aber ihr breites Meerjungfrauenmaul mit den nadelspitzen Zähnen; davon, wie ein paar Männer sie halb totgeschlagen hatten, während ihr Liebhaber zusah; und wie Arcimboldo, damals noch ein Junge, sie gefunden, gepflegt und bei sich aufgenommen hatte.
    »Merle kennt die Geschichte«, sagte sie schließlich. »Sie war die Erste nach Arcimboldo, der ich davon erzählt habe. Du bist der Zweite.« Ihr Tonfall blieb bei diesen Worten teilnahmslos; sie waren nicht als Auszeichnung gemeint, nicht als Warnung, nur als Feststellung.
    Serafin blickte von ihr zur grauen Gesichtslandschaft der Hexe hinüber. »Und jetzt, da sie tot ist, bedeutet das -«
    »Dass ich für immer das bleiben muss, was ich heute bin«, sagte sie mit belegter Stimme. »Nicht Mensch, nicht Meerjungfrau.«
    Er suchte nach einer Lösung, nach ein paar hoffnungsvollen Worten. »Könnte nicht eine andere Hexe -«
    »Nein. Der Zauber einer Hexe kann nur von ihr selbst rückgängig gemacht werden.« In ihren Augen spiegelte sich die trostlose See. »Nur von ihr selbst.«
    Er fühlte sich hilflos und wünschte, er wäre nicht mit ihr hergekommen, hätte sie allein mit ihrem Kummer gelassen.
    »Es lässt sich nicht ändern.« Sie klang nicht wirklich gefasst, gab sich aber alle Mühe. »Gehen wir zurück zu den anderen.«
    Er trottete niedergeschlagen hinter ihr her und stellte sich vor, wie dieses gigantische Wesen einst in den Tiefen der See gelauert hatte, eine scheußliche Riesin, die Jagd auf Fischerboote und Handelsschiffe machte - und nebenbei eine verliebte Meerjungfrau ins Unglück stürzte. Er bewunderte Unkes Mut: Sie hatte ihr Zuhause verlassen, war hinausgeschwommen in die offene See, in unbekannte Regionen, die selbst den Meerjungfrauen unheimlich sein mussten, und hatte eine Hexe um etwas gebeten. Er wusste genau, er hätte das nicht getan. Nicht für alle Verliebtheit dieser Welt.
    Nicht einmal für Merle?
    Er verdrängte den Gedanken rasch, aber es fiel ihm schwer. Noch immer konnte er sich nicht vorstellen, was aus ihr geworden war. Die Ungewissheit nagte an ihm, selbst dann, wenn er eigentlich gar nicht an Merle dachte - oder andere Dinge drängender waren. Überleben zum Beispiel.
    Die anderen saßen dort, wo Serafin und Unke sie zurückgelassen hatten. Nur Lalapeja war aufgestanden und hatte sich ein wenig von den Jungen entfernt, in Richtung der breiten Schwanzflosse, die wie das Segel eines untergegangenen Schiffs auf den Wellen trieb. Sie stand allein dort unten, hatte die Arme verschränkt und blickte hinaus auf die See, hinaus in die Leere.
    Dario erhob sich, als er Serafin und Unke entdeckte, und kam ihnen entgegen. Er wollte etwas sagen, vielleicht fragen, was sie getrieben hatten, als mit einem Mal Aristide einen Schrei aussstieß.
    Alle Gesichter wandten sich in seine Richtung.
    Es war kein Ruf gewesen, nur ein unartikulierter Laut, geboren aus Schrecken und schierer Hilflosigkeit.
    »Was -«
    Dario verstummte. Er sah es auch. Genau wie alle anderen.
    Die Wasseroberfläche zu beiden Seiten des Schuppenschwanzes war nicht länger leer. Köpfe waren aus den Fluten getaucht, schmale Frauengesichter mit langem Haar, das sich schillernd auf den Wogen wellte.
    Unke machte einen Schritt nach vorn, zögerte nur einen Moment, dann stieß sie einen Ruf in der Sprache der Meerjungfrauen aus. Sofort drehten sich alle Gesichter im Wasser in ihre Richtung. Ein merkwürdiges Schnattern hob an, Laute der Überraschung, als die Meerjungfrauen in Unkes Züge blickten, das scharfzahnige Maul erkannten und sich offenkundig fragten, warum eine aus ihrem Volk auf Beinen ging wie ein Mensch.
    »Ich schätze, das sind nicht die, die uns hergebracht haben?« Serafins Feststellung war als Frage getarnt, aber er erwartete keine Antwort.
    Unke kletterte an der Wölbung des Schuppenschwanzes hinunter, bis das Wasser gegen ihre Füße schwappte. Eine der Meerjungfrauen kam näher, und dann vergingen Minuten, während die beiden in der Sprache des Ozeans miteinander

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