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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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als ich älter war, in einem Stück polierten Glas, dessen Rückseite versilbert war – das Geschenk eines Kaufmannes, dessen entlaufenes Pferd ich in einem Tintenspiegel gesehen hatte.
    Auch die Händler auf dem Markt fürchteten sich vor dem Waldvolk. Sie nagelten ihre Waren auf die Bretter ihrer Stände: Ingwerbrot oder Ledergürtel wurden mit dicken Eisennägeln ans Holz geschlagen, denn andernfalls, so sagten sie, würde das Waldvolk ihre Waren stehlen und davonlaufen, während sie das erbeutete Ingwerbrot kauten und mit den Gürteln um sich schlugen.
    Dabei hatte das Waldvolk durchaus Geld. Eine Münze hier oder da, manchmal grün und fleckig vom Alter oder der Walderde und die Gesichter auf ihren Münzen waren selbst den ältesten unter uns unbekannt. Außerdem besaßen sie Dinge, die sie eintauschen konnten, und so bediente der Markt auch alljährlich die Ausgestoßenen und die Zwerge und die Räuber (wenn sie vorsichtig waren), die dem gelegentlichen Reisenden aus fernen Ländern jenseits des Waldes auflauerten oder den Zigeunern oder dem Wild. Auch das galt in den Augen des Gesetzes als Raub, denn das Wild gehörte der Königin.
    Langsam zogen die Jahre ins Land und mein Volk sagte, die Königin herrsche mit Weisheit. Das Herz hing nach wie vor über meinem Bett und pulsierte schwach in der Nacht. Ich wüsste niemanden, der um die Prinzessin getrauert hätte, denn alle fürchteten sich damals vor ihr und waren froh, ihrer ledig zu sein.
    Ein Lenzmarkt folgte dem anderen, fünf waren inzwischen vergangen, jeder trauriger, ärmlicher und schäbiger als der vorangegangene. Immer weniger Leute kamen aus dem Wald, um Handel zu treiben. Diejenigen, die kamen, schienen niedergeschlagen und matt. Die Händler nagelten ihre Waren nicht länger an den Brettern fest. Und im fünften Jahr kam nur noch eine Handvoll des Waldvolkes – ein verängstigtes Häuflein kleiner, haariger Männer und niemand sonst.
    Der Herr des Marktes und sein Knappe kamen am Abend des Markttages zu mir. Ich hatte ihn flüchtig gekannt, ehe ich Königin wurde.
    »Ich komme nicht zu Euch als Königin«, begann er.
    Ich schwieg und hörte zu.
    »Ich komme zu Euch, weil Ihr weise seid«, fuhr er fort. »Als Ihr ein Kind wart, fandet Ihr ein verirrtes Fohlen, indem Ihr in eine Schale mit Tinte schautet, und als junges Mädchen fandet ihr einmal ein verirrtes Kind mit Eurem Spiegel. Ihr kennt Geheimnisse und könnt das Verborgene sehen. Meine Königin, was geschieht mit dem Waldvolk? Nächstes Jahr wird es keinen Lenzmarkt geben. Die Reisenden aus anderen Königreichen sind selten geworden und das Waldvolk ist beinah ausgelöscht. Noch ein Jahr wie das letzte und wir werden alle verhungern.«
    Ich befahl meiner Zofe, mir meinen Spiegel zu bringen. Er war schlicht, eine Glasscheibe mit versilberter Rückseite, die ich eingewickelt in Hirschleder in einer Truhe in meinem Gemach verwahrte.
    Sie brachte ihn zu mir und ich blickte hinein:
    Sie war zwölf und kein kleines Mädchen mehr. Ihre Haut war immer noch bleich, Augen und Haare rabenschwarz, die Lippen blutrot. Sie trug dieselben Kleider wie am Tage, da sie den Palast zum letzten Mal verlassen hatte – ein Hemd und einen Rock, häufig geflickt und mit ausgelassenem Saum. Darüber trug sie einen ledernen Umhang und statt Stiefel schützten Lederbeutel ihre zierlichen Füße, zugebunden mit Riemen.
    Sie stand im Wald im Schatten eines Baumes.
    Während ich sie im Geiste beobachtete, sah ich sie von Baum zu Baum schlüpfen und huschen und schleichen und gleiten wie ein Tier, eine Fledermaus oder ein Wolf. Sie verfolgte jemanden.
    Es war ein Mönch. Er war in Sackleinen gekleidet und seine bloßen Füße waren hart und wie gegerbt. Bart und Haare waren lang, die Tonsur fast zugewachsen.
    Sie beobachtete ihn aus dem Dickicht. Schließlich machte er für die Nacht Halt, schichtete Zweige auf und zerbrach das Nest eines Rotkehlchens für Zunder. Dann holte er Stahl und Feuerstein aus der Tasche, schlug einen Funken und bald züngelten die ersten Flammen auf. Zwei Eier hatten in dem Nest gelegen, das er gefunden hatte, und er verschlang sie roh. Kaum genug, um einen großen Mann wie ihn zu sättigen.
    Als er dort im Feuerschein saß, kam sie schließlich aus ihrem Versteck. Sie hockte sich auf die andere Seite des Feuers und starrte zu ihm auf. Er grinste, als sei es lange her, seit er ein anderes menschliches Wesen gesehen hatte, und winkte sie näher.
    Sie erhob sich und umrundete das Feuer, hielt

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