Die Messerknigin
einigen Stunden kam eine Schar Zwerge aus einer der Höhlen: hässliche, missgestaltete, haarige kleine Männer, die ältesten Bewohner dieses Landes. Man sieht sie nur noch selten.
Sie verschwanden im Wald und keiner bemerkte mich, obgleich einer anhielt und an den Findling pinkelte, hinter dem ich mich verbarg.
Ich wartete. Niemand sonst kam heraus.
Ich trat an den Höhleneingang und rief mit der brüchigen Stimme einer alten Gevatterin hinein.
Die Narbe an meinem Handballen begann zu pochen und zu schmerzen, als sie aus der Dunkelheit auf mich zukam, nackt und allein.
Sie war jetzt dreizehn Jahre alt, meine Stieftochter, und ihre perfekte weiße Haut trug keinen Makel bis auf die Narbe auf der linken Brust, wo ihr vor langer Zeit das Herz herausgeschnitten worden war.
Die Innenseiten ihrer Schenkel waren von einer nassen, schwarzen Masse verschmiert.
Sie betrachtete mich neugierig, die ich ganz von meinem Mantel verhüllt war. Gierig sah sie mich an. »Schleifen, gute Frau«, krächzte ich. »Hübsche Bänder für Euer Haar …«
Sie lächelte und winkte mich näher. Ein Zucken. Die Narbe an meiner Hand zog mich zu ihr. Ich tat, was ich geplant hatte, aber bereitwilliger als geplant: Ich ließ meinen Korb fallen, kreischte auf wie das dumme alte Krämerweib, das ich zu sein vorgab, und rannte davon.
Mein grauer Mantel hatte die Farbe des Waldes und ich war schnell. Sie holte mich nicht ein.
Ich kehrte zurück zum Palast.
Ich sah es nicht. Aber man kann es sich unschwer vorstellen, wie das Mädchen hungrig und enttäuscht zur Höhle zurückkehrt und meinen verlorenen Korb am Boden liegen sieht.
Was tat sie wohl?
Ich vermute, sie spielte zuerst mit den Bändern, flocht sie in ihr rabenschwarzes Haar, legte sie um ihren bleichen Hals oder die zierliche Taille.
Dann räumte sie mit zunehmender Neugier den Stoff beiseite, um zu sehen, was sonst im Korb war, und entdeckte so die leuchtend roten Äpfel.
Sie dufteten natürlich nach frischen Äpfeln, doch zugleich rochen sie nach Blut. Und das Kind war hungrig. Ich stelle mir vor, wie sie einen Apfel auswählt, ihn an ihre Wange drückt, seine kühle Glätte auf der Haut spürt.
Dann öffnete sie den Mund und biss ein großes Stück ab.
Als ich in mein Gemach zurückkehrte, hatte das Herz, das dort zwischen den Äpfeln, den Schinken und getrockneten Würsten von den Dachsparren hing, aufgehört zu schlagen. Reglos und ohne Leben hing es dort und ich fühlte mich wieder sicher.
Der Schnee lag hoch in diesem Winter und die Schmelze kam spät. Wir waren alle hungrig, als endlich Frühling wurde.
Der Lenzmarkt verlief ein wenig reger in diesem Jahr. Das Waldvolk kam nicht zahlreich, aber es kam. Und Reisende aus den Ländern jenseits des Waldes fanden sich ein.
Ich sah die kleinen Männer aus der Waldhöhle. Sie kauften und tauschten ihre Waren gegen Glasstücke jeder Größe und Kristall- und Quarzklumpen. Sie zahlten gar mit Silbermünzen für ihr Glas. Beute von den Raubzügen meiner Stieftochter, dessen war ich sicher. Als sich herumsprach, was sie kauften, liefen die Stadtleute nach Hause und holten ihre Glückskristalle. Manche kamen mit nicht ganzen Fensterscheiben zum Markt zurück.
Ich erwog einen Moment, die kleinen Männer töten zu lassen, doch ich tat es nicht. Solange das Herz still und kalt und reglos an seinem Balken in meinem Gemach hing, war ich sicher. Und sicher waren auch die Bewohner des Waldes und letztlich auch die der Stadt.
Ich wurde fünfundzwanzig und es lag zwei Winter zurück, dass meine Stieftochter den vergifteten Apfel gekostet hatte, als der Prinz zu meinem Palast kam. Er war groß, sehr groß und hatte kalte grüne Augen und die schwärzliche Haut derer, die jenseits der Berge leben.
Er ritt mit kleinem Gefolge: genug Männer, um ihn zu verteidigen, aber nicht so viele, dass ein anderer Herrscher – wie ich, zum Beispiel – sie als Gefahr ansehen könnte.
Ich betrachtete die Dinge pragmatisch: Eine Allianz unserer Länder barg viele Vorteile. Das vereinte Königreich würde vom Wald bis ans Meer weit im Süden reichen. Ich dachte an meinen goldhaarigen, bärtigen Liebsten, der jetzt acht Jahre tot war, und in der Nacht ging ich zum Gemach des Prinzen.
Ich bin keine Unschuld, obgleich mein verstorbener Gemahl und einstiger König mein erster Liebhaber war, ganz gleich, was sie sagen.
Zuerst schien der Prinz voller Erregung. Er hieß mich mein Hemd ausziehen und mich ans geöffnete Fenster stellen, weit vom Feuer
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