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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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später im Schlafzimmer waren und Belinda ihre Ohrringe auszog, fragte sie: »Sollen wir nachschauen, was das Hochzeitsgeschenk sagt?«
    Vom Bett aus sah er sie ernst an. Er trug nur noch Socken. »Nein, lieber nicht. Heute ist ein besonderer Abend. Warum ihn verderben?«
    Sie legte die Ohrringe in die Schmucklade und verschloss sie. Dann zog sie die Strümpfe aus. »Du hast vermutlich Recht. Ich kann mir sowieso vorstellen, was drinsteht: Ich bin ständig betrunken und depressiv und du ein jämmerlicher Versager. Und derweil sind wir … na ja, ich bin tatsächlich ein bisschen beschwipst, aber das ist es nicht, was ich meine. Es liegt da ganz unten in seiner Schublade versteckt wie das Porträt auf dem Dachboden in Das Bildnis des Dorian Gray .«
    »›Erst als sie die Ringe untersuchten, erkannten sie, wer es war.‹ Ja. Ich erinnere mich. Wir haben es in der Schule gelesen.«
    »Das ist es, was mir Angst macht«, gestand sie und zog ein Baumwollnachthemd über. »Dass die Geschichte auf dem Blatt das wahre Porträt unserer Ehe ist und dass das, was wir erleben, nur ein hübsches Bild ist. Dass es wirklich ist und wir nicht. Ich meine …« Sie sprach jetzt eindringlich, mit dem großen Ernst der leicht Angetrunkenen. »Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass all dies zu schön ist, um wahr zu sein?«
    Er nickte. »Manchmal. Heute Abend ganz bestimmt.«
    Sie fröstelte. »Vielleicht bin ich ja wirklich trunksüchtig und habe eine Narbe auf der Wange und du fickst alles, was einen Rock anhat, und Kevin ist nie geboren worden … und all die anderen schrecklichen Dinge.«
    Er stand auf, kam zu ihr herüber und nahm sie in die Arme. »Aber es ist nicht wahr«, entgegnete er. »Das hier ist real. Du bist real. Ich bin real. Das Hochzeitsding ist nur eine Geschichte. Nur Wörter.« Und er küsste sie und hielt sie fest und in dieser Nacht wurde nicht mehr viel gesprochen.
    Sechs Monate später fiel endlich die Entscheidung und es wurde bekannt, dass Gordons Entwurf den Architektenwettbewerb für das British Heritage Museum gewonnen hatte, selbst wenn die Times ihn als zu »aggressiv modern« bezeichnete, verschiedene Fachzeitschriften ihn zu altmodisch fanden und einer der Juroren in einem Interview mit dem Sunday Telegraph bekannte, er sei »ein Kompromisskandidat gewesen, die zweite Wahl aller Preisrichter«.
    Sie zogen nach London und vermieteten ihr Haus in Preston an einen Künstler und seine Familie, denn Belinda wollte nicht, dass Gordon es verkaufte.
    Mit Feuereifer stürzte Gordon sich auf das Museumsprojekt und er arbeitete sehr hart. Kevin war sechs, Melanie acht. London jagte Melanie Angst ein, aber Kevin fand es herrlich. Anfangs waren beide Kinder verstört über die Trennung von ihren Freunden und ihrer Schule. Belinda fand einen Teilzeitjob in einer Tierarztklinik in Camden, wo sie drei Nachmittage pro Woche arbeitete. Sie vermisste ihre Kühe.
    Aus den Tagen in London wurden Monate, dann Jahre. Trotz gelegentlicher Etatkürzungen wuchs Gordons Enthusiasmus für sein Museumsprojekt und der Tag des ersten Spatenstichs rückte näher.
    Eines Nachts wachte Belinda in den frühen Morgenstunden auf und betrachtete ihren schlafenden Mann im natriumgelben Licht der Straßenlaterne vor dem Schlafzimmerfenster. Sein Haaransatz ging zurück, am Hinterkopf war der Schopf merklich dünner geworden. Belinda überlegte, wie es wohl sein würde, eines Tages mit einem Glatzkopf verheiratet zu sein. Vermutlich so, wie es immer gewesen war, entschied sie. Meistens glücklich. Meistens gut.
    Sie fragte sich, wie es ihnen in dem Briefumschlag erging. Sie konnte seine Präsenz spüren, trocken und brütend, dort in der Ecke des Schlafzimmers, sicher unter Verschluss. Plötzlich empfand sie Mitgefühl mit dieser Belinda und diesem Gordon, die in dem Umschlag eingesperrt waren, auf ein Blatt Papier gebannt, und sich und die ganze Welt hassten.
    Gordon fing an zu schnarchen. Sie küsste ihn behutsam auf die Wange und sagte: »Schsch.« Er regte sich und war still, wachte aber nicht auf. Sie kuschelte sich an ihn und schlief bald wieder ein.
    Am nächsten Tag hatte Gordon nach dem Mittagessen eine Besprechung mit einem Importeur für toskanischen Marmor. Plötzlich zeigte sein Gesicht einen Ausdruck größter Überraschung und er legte die Hand auf die Brust. Er sagte: »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, und dann knickten seine Knie ein und er fiel zu Boden. Man rief einen Rettungswagen, doch Gordon war tot, ehe er

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