Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
der ihm nicht gehorchen wollte. Und dann sagte er deutlich: Ich wollte dich sehen, mein Täubchen. Wegen dir bin ich hier.
Du hättest nicht gehen dürfen.
Da war kein Leid mehr in der Stimme der Mutter, alles Leid war zur Gewissheit erstarrt. Deine Töchter wollten meine Bücher entsorgen, aber ich habe dir einen Satz gerettet, einen meines Geliebten, der mich über deine Abwesenheit tröstete.
Ich bin froh, dass du Trost hattest. Die Stimme des Vaters war schwach und bar jeden Spottes.
Sein Name ist Machiavell, du erinnerst dich seiner? Höre, das erste Gesetz für jedwedes Wesen heißt: Erhalte dich! Lebe! – Ihr sät Schierling und tut so, als sähet Ihr Ähren reifen!
Mein Bein ist fort, schau, jetzt bleibe ich. Der Vater bemühte sich um ein Lächeln, ein gütiges. Ein einvernehmliches, frommes. Eines, mit dem er früher noch jede Unstimmigkeit zwischen ihnen besänftigen konnte.
Hier wäre es nie verloren gegangen, hier, bei mir.
Der Vater schwieg. Helene verspürte den dringenden Wunsch, ihn zu verteidigen, sie wollte etwas sagen, das sein Gehen vor sechs Jahren gerechtfertigt hätte, aber ihr fiel nichts ein. Deshalb sagte sie: Mutter, er ist für uns alle in den Krieg gegangen, er hat für uns alle sein Bein verloren.
Nein, die Mutter schüttelte den Kopf. Für mich nicht.
Sie stand auf.
Sie ging aus der Tür und drehte sich noch einmal um, ohne Helene dabei eines Blickes zu würdigen, sagte sie: Und misch dich da nicht ein, Kind. Was weißt du schon von mir und ihm?
Martha folgte der Mutter ins Treppenhaus, sie war unerschrocken, sie ließ sich nicht beeindrucken.
Nun trat diese herzensblinde Mutter, von der Helene vor allem Befehle und sich selbst aus der Welt ausschließende Gedanken kannte, zurück an das Bett ihres sterbenden Mannes, sie wusste ihre Töchter in ihrem Rücken, und doch sagte sie die Worte: Ich sterbe nicht zum ersten Mal.
Helene griff nach Marthas Hand, ihr war nach Lachen zumute. Wie oft hatte sie die Mutter schon diesen Satz sprechen hören, meist war er die Einleitung zur Forderung nach mehr Fleiß im Haushalt, größerer Ehrerbietung oder einem Botengang gewesen, manchmal eine bloße Erklärung, deren Absicht nicht leicht entzifferbar war und über deren Ziel sich die Mädchen mitunter stundenlang Gedanken machten. Doch hier am Sterbebett ihres Mannes galt der Mutter offensichtlich nichts etwas als die eigene Ergriffenheit und die Niederung eines Fühlens, das nur noch für sich selbst langte.
Martha löste ihre Hand aus Helenes. Sie packte die Mutter an der Schulter. Siehst du nicht, dass er es ist, der stirbt? Vater stirbt. Nicht du, es geht hier nicht um dein Sterben, begreif das endlich.
Nicht? Die Mutter sah Martha erstaunt an.
Nein. Martha schüttelte den Kopf, als müsse sie die Mutter überzeugen.
Der ratlose Blick der Mutter fiel plötzlich auf Helene. Ein Lächeln trat in ihr Gesicht, anscheinend entdeckte sie einen Menschen, den sie lange nicht gesehen hatte. Komm her, meine Tochter. Das sagte sie zu Helene.
Helene wagte keine Bewegung mehr, sie wollte sich der Mutter keinen Zentimeter nähern, keinen noch so kleinen Schritt. Am liebsten hätte sie das Zimmer verlassen. Sie mied weniger die im nächsten Augenblick drohende Abweisung der Mutter als eine Berührung, eine Berührung, die etwas wie Ansteckung mit sich bringen könnte. Helene spürte die alte Furcht in sich aufkommen, sie könne eines Tages erblinden wie diese Mutter. Das Lächeln der Mutter, eben noch zutraulich, erfror. Helene kannte nur einen Albtraum, der sie seit Jahren immer wieder heimsuchte: Zwei Götter, die aussahen wie Apollo auf dem Stich über dem Papierregal im Verkaufsraum der Druckerei. Die beiden Götter stritten sich um ihre alleinige Daseinsberechtigung, jeder brüllte aus vollem Halse: Ich! Gleichzeitig riefen sie: Ich bin der Herr, dein Gott. Und es wurde finster um Helene. So finster, dass sie nichts mehr sehen konnte. In diesen Träumen tastete sie sich vorwärts, sie fühlte Glitschiges und Schnecken, Heißes und Feuer und schließlich das Nichts, in das sie fiel. Ehe sie aufschlagen konnte, erwachte sie jedes Mal, ihr Herz raste, sie drückte ihre Nase in den Rücken der gleichmäßig atmenden Martha, und während ihr das Nachthemd nasskalt am Rücken klebte, betete sie zu Gott, er möge sie von diesem Albtraum befreien. Doch Gott zürnte offenbar. Der Albtraum kehrte wieder. Vielleicht war er nur beleidigt. Helene wusste warum, weil er ahnte, dass Helene ihm eine
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