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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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nicht ins Mädchenzimmer, wo ihre Vertrauten warteten, der Werther und die Marquise, deren Ohnmacht Helene noch für sonderbar und unglaublich hielt, sie stieg eine Treppe höher. Über Nacht war es kalt hier oben geworden. Niemand mehr hatte heute Morgen den kleinen Ofen befeuert. Sie trat zum Bett und sah, wie sich seine Nase durch das Laken drückte. Sie fragte sich, wie er jetzt wohl aussah. Doch es entstand kein Bild vor ihren Augen. Selbst die Erinnerung daran, wie er ausgesehen hatte, als er noch lebte, fehlte; gestern hatte sie versucht, ihm etwas Wasser einzuflößen, und er hatte den Mund nicht mehr geöffnet, keinen Spalt weit, von seinem gestrigen Aussehen fehlte in ihr eine Spur. Überall auf dem Kopfkissen hatten Haare geklebt, seine aschfahlen, zuletzt gelblichen, langen Haare, daran erinnerte sie sich. Sie hatte die Haare vom Kopfkissen gezupft und lange in ihrer Hand gehalten, weil sie nicht wusste, wohin damit. Konnte sie das Haar ihres sterbenden Vaters wegwerfen? Sie konnte. Sie hatte sein Haar ins Häuschen auf dem Hof gebracht und wollte es dort in die gefrorene Grube fallen lassen. Das Haar war nicht einfach aus der Hand gefallen. Es hatte sich nicht aus ihrer Hand lösen wollen. Auch im Häuschen hatte sie es abzupfen müssen, von ihren Händen, Haar um Haar. Und es war nicht gefallen, es schwebte, so langsam, dass sie Ekel empfand und nicht hinsehen wollte. Daran erinnerte sich Helene, an sein Haar, gestern, nicht aber an sein Aussehen. Das Laken war weiß, und sonst nichts. Helene hob es an, erst vorsichtig, dann ganz, sie betrachtete ihren Vater. Die Haut über seiner Augenhöhle spiegelte, makellos glatt. Er trug einen Verband um den Kopf, der wohl den Kiefer geschlossen halten sollte, ehe die Totenstarre einsetzte. Helene wunderte sich, dass seine Haut noch schimmerte, das Gesicht noch glänzte. Mit dem Handrücken be rührte sie seine Wange. Das Nichts war nur ein wenig kühl.
    Sie legte das Laken über ihn und verließ den Raum auf Zehenspitzen, sie wollte nicht, dass die Mutter im Zimmer unter ihr ihre Schritte hörte, sie sollte nicht hören, dass sie bei ihm war. Helene stieg die Treppe wieder hinab und stellte sich vor das Fenster. Sie atmete tief ein und hauchte ein Loch in die Eisblumen. Durch das Loch konnte Helene sehen, wie der Pfarrer mit schnellen Schritten vom Kornmarkt herunter kam, er lief dicht an den rußigen Mauern der Häuser entlang, wechselte die Straßenseite und kam herüber zum Haus. Er blieb stehen. Er suchte etwas in seinem langen Mantel, fand ein Taschentuch und schnäuzte sich. Dann läutete er.
    Martha bot dem Pfarrer Tee an. Sie sprachen leise und Helene hörte kaum zu. Einmal läutete es und das Mariechen öffnete sechs schwarz gekleideten Herren. In einem erkannte Helene den Bürgermeister Koban, der sich nicht am Krankenbett des Freundes hatte sehen lassen, in einem anderen erkannte sie Grumbach, der aber scheute sich, den Blick zu heben, ihrem zu begegnen. Vor der Tür wartete ein Zweispanner. Die Pferde trugen Decken gegen die Kälte. Sie schnaubten und ihr Atem sah aus wie der einer kleinen Dampflok. Die sechs Herren trugen den Sarg die Treppe hinauf und kurze Zeit später die Treppe wieder hinab.
    Wir müssen gehen, die Menschen warten am Friedhof, sie werden frieren, die Kapelle hat im Krieg nicht nur die Glocke, sondern auch ihren Ofen verloren, sagte der Pfarrer und fragte: Ist Ihre werte Mutter zum Aufbruch bereit?
    Erst jetzt horchte Helene auf.
    Nein, sagte Martha. Sie wird nicht mitkommen.
    Sie wird nicht ...? Der Pfarrer sah verständnislos zu Martha, dann zu Helene und zuletzt zum Mariechen, das die Augen niederschlug.
    Nein, sagte Helene, sie will nicht.
    Sie sagt, sie ist müde, erklärte Martha, ihre Stimme wirkte sonderbar schwach.
    Müde? Dem Pfarrer blieb der Mund offen stehen. Helene mochte es, wie weich er das D sprach. Er war nicht aus der Gegend, er kam aus dem Rheinland und hatte die Pfarrei erst seit zwei Jahren. Helene mochte seine Predigten, in seiner Sprache glaubte sie etwas von der großen Welt zu hören, etwas, das weit über die Welt des Gottes, von dem er sprach, hinausschwang.
    Martha nahm entschlossen ihren Mantel. Der Pfarrer blieb sitzen, das letzte Geleit, hob er an und verstummte. Weich das G und hart das T. Wo waren seine Worte für fehlenden Gehorsam?
    Gehen wir und lassen ihr den Willen, forderte Martha den Pfarrer nun streng auf.
    Nein, stammelte der Pfarrer. Wir können doch nicht ohne sie, ohne seine Gattin,

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