Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Gestalt zudachte, es war die Gestalt eines stattlichen Apollo, und nicht nur das, sie sah ihn doppelt, sie sah den Bruder, und während sie zu dem einen betete, wandte sie dem anderen den Rücken zu – und schließlich ließ allein ihr Gebet einem Gott keine andere Wahl als den Zorn.
Im nächsten Augenblick, den sie erstarrt dastand und längst deutlich war, dass sie der Aufforderung ihrer Mutter nicht nachkommen wollte und konnte, fiel ihr ein, wie die Mutter vor Jahren auf dem Protschenberg über ihren Gott gesprochen hatte und den des Vaters, als rivalisiere ihrer beider Glaube. Dass die Mutter die Menschen als Erdwürmer bezeichnete, empfand Helene als Ausdruck des Hasses, den ihr die Mutter von jeher mitteilen wollte und der Früchte zeigte, wenn Helene von den nackten Schnecken träumte, um in ein Nichts zu fallen, das ihr wie der mütterliche Schoß erschien.
Helene wollte sich waschen, die Hände waschen bis zum Ellenbogen, den Hals, das Haar. Alles musste gewaschen werden. Ihre Gedanken drehten sich. Sie wandte sich ab und stolperte die Treppe hinunter. Sie hörte das Mariechen hinter sich rufen, sie hörte, wie Martha ihren Namen rief, aber sie konnte nichts denken und nicht einhalten, sie musste laufen. Sie öffnete die Haustür und rannte die Tuchmacherstraße hinauf und über den Lauengraben bis zur Kronprinzenbrücke. Dort tastete sie sich auf Zehenspitzen im Dunkeln unterhalb des Bürgergartens die Böschung zur Spree hinab, mal konnte sie sich mit den Händen am dicken Fundament der Brücke halten, mal hielt sie sich an Büschen und Bäumen. Sie lief auf der unteren Straße am Lattenzaun entlang, vorbei am Restaurant zur Hopfenblüte, wo noch reger Betrieb herrschte, Tanzmusik erschallte, laut, die Menschen wollten endlich mit dem Krieg und seinem Schweigen und ihrer Niederlage brechen, und erst als sie unten am Wehr anlangte und in der Finsternis nichts als das Glucksen und Rauschen des Flusses hörte, konnte sie stehenbleiben. Sie ging in die Hocke und hielt ihre Hände in das eisige Wasser. Nebel hing in dem Flussbett und Helene lauschte auf ihren Atem, der ruhiger wurde.
Spät, als die Musik aus dem Gasthaus verstummt war und ihre Kleider feucht und kalt von der Nacht und dem Fluss geworden waren, kehrte sie nach Hause zurück. Sie schlich auf Zehenspitzen hinauf in ihr dunkles Zimmer, tastete nach Martha und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Martha legte einen Arm über sie und ein Bein, ihr schweres, langes Bein, unter dem sich Helene geborgen fühlte.
Helene stand am Fenster und zerkratzte mit dem Fingernagel die Blätter der Eisblumen. Eine feine Schicht Eis, noch glatt, das Schaben der Blumen, schon weiß. Kleiner Haufen, winzige Kristalle. Der Vater ist tot. Martha hatte ihr das am Morgen gesagt. Helene suchte die Worte einzeln nach ihrer Bedeutung ab. Widersprachen sich nicht schon ist und tot, sein und haben? Er hatte kein Leben mehr, noch gab es den, der irgendetwas sein eigen nennen konnte. Wie wollte es sich auch besitzen lassen, so ein Leben? Sie fragte sich, warum Martha sie in der Nacht nicht geweckt hatte, damit auch sie die Hand des Vaters hätte halten können. Martha war allein bei ihm gewesen.
Wie war das?
Was?
Wie ist er gestorben?
Du hast ihn doch gesehen, Engelchen.
Aber das letzte Atmen, was kam danach?
Nichts. Martha sah Helene mit offenen Augen an, Augen, die nicht blinzelten und die sagen wollten, sie können nicht lügen. Helene wusste, dass Martha ihr darüber nicht mehr sagen würde, selbst wenn sie etwas wüsste. Sie würde es für sich behalten. Danach kam also nichts. Helene hauchte ihren Atem gegen die Eisblätter, sie berührte mit den Lippen die spitzgezackten Blüten. Ihre Lippen klebten am Eis und brannten. Haut abgezogen, feine Lippenhaut. Martha wird ihm die Hände gefaltet, das Laken über sein Gesicht gelegt und das Bett zum Fenster gedreht haben, damit seine Seele zu Gott schauen konnte. Roh das Fleisch der Lippen.
Helene wäre gern geweckt worden. Vielleicht wäre er nicht gestorben, wenn sie seine Hand gehalten hätte. Zumindest nicht so, so einfach, einfach so, nicht ohne sie.
In allen Zimmern des Hauses brannten Kerzen, der Tag wollte nicht beginnen. Die Wolken lagen tief und schwer über den Dächern, sie hingen zwischen den Mauern, die Nacht schaukelte noch in den Wolken.
Wir warten auf den Pfarrer, sagte Martha und setzte sich auf die Treppe.
Du wartest, ich gehe hinauf und lese mein Buch, antwortete Helene. Sie ging hinauf, aber
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