Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Prolog
Auf dem Fensterbrett stand eine Möwe, sie schrie, es klang, als habe sie die Ostsee im Hals, hoch, die Schaumkronen ihrer Wellen, spitz, die Farbe des Himmels, ihr Ruf verhallte über dem Königsplatz, still war es da, wo jetzt das Theater in Trümmern lag. Peter blinzelte, er hoffte, die Möwe werde allein vom Flattern seiner Augenlider aufgescheucht und flöge davon. Seit der Krieg zu Ende war, genoss Peter die Stille am Morgen. Vor einigen Tagen hatte ihm die Mutter ein Bett auf dem Boden der Küche gemacht. Er sei jetzt ein großer Junge, er könne nicht mehr in ihrem Bett schlafen. Ein Sonnenstrahl traf ihn, er zog sich das Laken über das Gesicht und lauschte der sanften Stimme von Frau Kozinska. Sie kam aus den Rissen im Steinboden, aus der Wohnung unter ihm. Die Nachbarin sang. Ach Liebster, könntest du schwimmen, so schwimm doch herüber zu mir. Peter liebte diese Melodie, die Wehmut in ihrer Stimme, das Wünschen und die Traurigkeit. Diese Gefühle waren so viel größer als er, und er wollte wachsen, nichts lieber als das. Die Sonne wärmte das Laken auf Peters Gesicht, bis er die Schritte seiner Mutter hörte, die sich wie aus großer Ferne näherten. Plötzlich wurde das Laken weggezogen. Los, los, aufstehen, ermahnte sie ihn. Der Lehrer warte, behauptete die Mutter. Aber der Lehrer Fuchs erfragte schon seit langer Zeit nicht mehr die Anwesenheit der einzelnen Kinder, die wenigsten konnten noch jeden Tag kommen. Seit Tagen gingen seine Mutter und er jeden Nachmittag mit dem kleinen Koffer zum Bahnhof und versuchten einen Zug in Richtung Berlin zu bekommen. Kam einer, war er so überfüllt, dass sie es nicht hineinschafften. Peter stand auf und wusch sich. Mit einem Seufzen zog die Mutter ihre Schuhe aus. Aus dem Augenwinkel sah Peter, wie sie die Schürze abnahm, um sie in den Wäschetopf zu legen. Ihre weiße Schürze war jeden Tag befleckt von Ruß und Blut und Schweiß, stundenlang musste sie eingeweicht werden, bevor seine Mutter das Waschbrett nehmen und die Schürze darauf reiben konnte, bis die Hände rot wurden und ihr die Adern an den Armen schwollen. Mit beiden Händen hob Peters Mutter die Haube vom Kopf, sie zog die Haarnadeln aus dem Haar, und ihre Locken fielen ihr weich über die Schultern. Sie mochte es nicht, wenn er sie dabei beobachtete. Mit einem Blick aus dem Augenwinkel sagte sie: Das da auch, und ihm schien, als zeige sie mit einer gewissen Abscheu auf sein Geschlecht, damit er es wasche, dann wandte sie ihm den Rücken zu und strich mit einer Bürste durch ihr volles Haar. Es schimmerte golden in der Sonne, und Peter dachte sich, er habe die schönste Mutter der Welt.
Selbst nachdem im Frühjahr die Russen Stettin erobert hatten und einige der Soldaten seither in Frau Kozinskas Wohnung übernachteten, hörte man sie früh am Morgen singen. Letzte Woche einmal hatte seine Mutter am Tisch gesessen und eine ihrer Schürzen ausgebessert. Peter hatte laut vorgelesen, der Lehrer Fuchs hatte ihnen aufgetragen, das laute Lesen zu üben. Peter hasste das laute Lesen und ihm war schon manchmal aufgefallen, wie wenig seine Mutter zuhörte. Vermutlich war ihr die Störung der Stille zuwider. Meist war sie so tief in ihren Gedanken, dass es ihr gar nicht aufzufallen schien, wenn Peter plötzlich mitten im Satz leise weiterlas. Während er so vor sich hin gelesen hatte, hatte er zugleich Frau Kozinska gelauscht. Man sollte ihr den Hals umdrehen, hörte er seine Mutter unvermittelt sagen. Erstaunt blickte Peter sie an, aber sie lächelte nur und stieß ihre Nadel in das Leinen.
Die Brände vom vergangenen August hatten die Schule vollkommen zerstört, und so trafen sich die Kinder seither bei dem Lehrer Fuchs im Milchladen seiner Schwester. Nur noch selten konnte etwas verkauft werden, Fräulein Fuchs stand mit verschränkten Armen an der Wand hinter ihrem leeren Ladentisch und wartete. Obwohl sie taub geworden war, hielt sie sich oft die Ohren zu. Die große Ladenscheibe war herausgebrochen, auf der Fensterbank saßen die Kinder, und der Lehrer Fuchs zeigte ihnen auf der Tafel Zahlen, drei mal zehn und fünf mal drei. Die Kinder fragten ihn, wo Deutschland verloren habe, aber er mochte es ihnen nicht zeigen. Er sagte, wir werden jetzt nicht mehr zu Deutschland gehören, und er freute sich darüber. Wohin dann, wollten die Kinder wissen, wohin gehören wir dann? Der Lehrer Fuchs zuckte mit den Achseln. Heute wollte Peter ihn fragen, warum er sich darüber freute.
Peter stand am
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