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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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formten die Worte, während sie seine Stirn küsste.
    Ein Raureif, klein, klein. Mein Täubchen. Wir frieren nicht mehr. Das stammelte der Vater. Seit Wochen hatte er nicht gesprochen. Sie erkannte seine Stimme kaum, aber es musste seine sein. Helene blieb bei ihm, sie ließ ihre Lippen auf seiner Stirn liegen. Ihr Kopf war plötzlich so schwer, dass sie sich mit ihrem Gesicht auf das des Vaters legen wollte. Sie wusste, dass der Vater die Mutter von jeher Täubchen genannt hatte.
    Nichts als Tarnung so ein Körper, flüsterte der Vater. Ganz und gar, unsichtbar. Im Bau ist es warm, Täubchen, komm herein zu mir, niemand kann uns entdecken, keiner uns erschrecken. Der Vater nahm die Hände zu seinen Ohren und hielt sie sich zu. Bleibt bei mir, meine Worte, lauft nicht aus. Das Täubchen kommt, mein Täubchen kommt.
    Einen Augenblick schämte sich Helene, hatte sie doch die für die Mutter bestimmten, zumindest an die Mutter gerichteten Worte empfangen und würde sie diese für sich behalten.
    Erst als das Zittern begann, erhob sich Helene, während sie dem Vater über den Kopf strich. An ihrer Hand blieben un zählige seiner lang gewachsenen Haare kleben. Es waren so viele Haare, die an Helenes Hand klebten. Voller Verwunderung fragte sie sich, wie es sein konnte, dass er überhaupt noch welche auf dem Kopf hatte. Was als Zittern begonnen hatte, wurde heftiger, ein Rütteln ging durch den Körper des Vaters, Speichel floss ihm aus dem Mundwinkel. Helene erwartete, dass er nun blau werde, wie sie es vor einigen Tagen schon einmal erlebt hatte. Sie sagte: Ich bin es, Helene.
    Aber inmitten des Zitterns klangen seine Worte unnatürlich klar: Süßes Lächeln, du. Vertraut wir zwei. Nur Granaten kommen, und verraten uns, weil sie so laut sind, und wir zu weich. Zu weich. Es spritzt, pass auf!
    Helene wich einen Schritt zurück, damit die ausschlagende Faust des Vaters sie nicht treffen konnte.
    Vater, möchtest du etwas trinken?
    Ein Bein, ein Bein, das tanzt von ganz allein. Der Vater lachte und mit dem Lachen ebbte sein Zittern ab. Wellen, die sich von ihrem Ursprung lösen. Helene war unsicher, ob er vom verlo renen Bein sprach.
    Trinken?
    Plötzlich packte die Hand des Vaters Helene, unerwartet kräftig, und hielt sie am Handgelenk fest.
    Helene erschrak, sie drehte sich um, doch von Martha weit und breit keine Spur. Lediglich unklare Geräusche aus dem un teren Stockwerk zeugten davon, dass Martha sich mit dem Ma riechen Zutritt erobert hatte. Helene wand sich aus dem Griff ihres Vaters, der im nächsten Augenblick zu schlafen schien. Sie nahm die Karaffe Wasser vom Nachttisch und goss etwas davon in das Fläschchen, das Martha während der vergangenen Tage benutzt hatte, um dem Vater Wasser in den Mund zu flößen.
    Kaum setzte sie das Fläschchen an die Lippen des Vaters, sagte dieser mitten aus der Haltung des Schlafes heraus: Getrunkene Weiber in meinem Mund.
    Er konnte nicht trinken, kein Wasser mehr aufnehmen. Mit den Fingern benetzte sie die Lippen ihres Vaters.
    Helene nahm die Spritze zuhilfe, sie zog die Nadel ab und träufelte ihm Wasser in den Mund.
    Dann steckte sie die Nadel wieder auf und zog die Spritze bis zum untersten Strich mit Morphium auf, sie hielt die Spritze in die Höhe und presste die Luft hinaus. Da die Arme des Vaters vollkommen zerstochen waren, wollte sie ihm die Spritze in den Hals setzen. Dort hatte sich ein Abszess gebildet, aber gleich daneben entdeckte sie eine gute Stelle für den Einstich. Sie drückte langsam.
    Später musste sie vor Erschöpfung an seinem Bett eingeschlafen sein. Es dämmerte, als sie den Kopf hob und hörte, unter welchen Flüchen sich die Mutter näherte. Offenbar wurde sie gewaltsam die Treppe heraufbefördert. Da war Marthas Stimme, laut und heftig: Sieh ihn dir an, Mutter.
    Die Tür wurde geöffnet, die Mutter wehrte sich, sie wollte das Zimmer nicht betreten.
    Ich will das nicht, sagte die Mutter wieder und wieder, ich will das nicht. Sie schlug um sich. Aber Martha und das Mariechen nahmen keine Rücksicht, sie schoben die Mutter zur Tür hinein und stießen sie, die sich jetzt an den beiden festklammerte, mit aller Kraft auf das Bett des Vaters.
    Einen Augenblick war Stille. Die Mutter rappelte sich. Sie entdeckte ihren Mann, den sie sechs Jahre nicht gesehen hatte. Sie schloss die Augen.
    Was hat er dir getan? Martha durchbrach das Schweigen, sie konnte ihre Empörung nicht verbergen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Helene das Mariechen in ihrer

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