Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
Bild Die Liebe der Marianne. Der Mann deutete auf das Mal, das Yann so lebendig wie ein Feuer getroffen hatte. Yann zuckte die Achseln, und Emile stützte sich auf Simon, um mit ihm näher zu schlendern und das Gespräch zu belauschen.
»… und die genetisch-genealogische Forschung kann zum Teil auch durch Pigmentstörungen wie dieser markanten Form Rückschlüsse auf Zugehörigkeit zu den Nachkommen der keltischen Druiden …«
Doch Yann hörte dem Mann nicht mehr zu, der immer aufgeregter zu erklären versuchte, was die besondere Form von Mariannes Flammenmal seines Wissens nach zu bedeuten habe; nämlich ein Hinweis auf jenes Volk, das zu Zeiten König Artus’ Magier und Ritter, Druidinnen und Heilerinnen geboren hatte.
Yann sah zu der Frau in dem roten Kleid, die soeben die Galerie Rohan betreten hatte und langsam ihre schwarze, mondäne Sonnenbrille abnahm. Fassungslos umhersah. Auf die siebenundzwanzig Ölbilder, achtzehn Tuschezeichnungen und dreißig Aquarelle. Und sie alle zeigten dieselbe Frau.
»Mariann!«
Marianne hörte nicht Alains Ruf. Sie sah nur. Sie sah sich selbst, wie sie sich nie gesehen hatte.
Voller Herzklopfen und Scheu war sie gewesen, als sie mit dem roten, tief ausgeschnittenen Kleid durch die Stadt ging, auf dem Weg zur Galerie Rohan. Das Kleid reichte bis zu ihren Knien, war aus Seide, ein warmes Rot, und sie hatte es in einer Änderungsschneiderei gefunden; es war dort in den vergangenen zwei Jahren nicht abgeholt worden und als Ausstellungsstück im staubigen Schaufenster gelandet.
Marianne hatte der Unbekannten gedankt, dass sie nicht den Mut gehabt hatte, sich diesem Kleid zu stellen, sondern es darauf warten zu lassen, bis es von Marianne gefunden wurde.
Nicolas von der Rezeption der Pension Babette, der ihr auch die Adresse der Galerie Rohan herausgesucht hatte, war mit ihr auf die Straße getreten, um sie im Licht der verglühenden Sonne besser sehen zu können.
»Atemberaubend«, hatte er gesagt.
Und jetzt stand sie vor diesen Bildern, die ihr eine Marianne offenbarten, die sie auf den ersten Blick niemals in sich selbst erkannt hätte.
Eine Marianne, die ihr Gesicht in die untergehende Sonne hielt. Eine schlafende Marianne. Eine, die gerade geküsst hatte, mit einem Lächeln, entrückt und selbstvergessen. Eine Frau, die am Meer Akkordeon spielte. Eine nackte Marianne.
Sie sah sich durch die Augen des Mannes, der sie liebte.
Und Marianne entdeckte, dass sie schön war. Sie besaß die Schönheit der geliebten Frauen. Ihre Seele hatte sich gewandelt. Sie sah, dass sie achtzehn, nein, neunzehn verschiedene Gesichter besaß: der Trauer und der Nachsicht, der Zärtlichkeit und des Stolzes, des Traumes und der Musik. Und ein Bild gab es, da wusste sie sofort, woran sie gedacht hatte: an eine Sackgasse. Es war eine grenzenlose Verlassenheit in ihrem Blick, ihre Augen erloschen, ihr Mund verzagt, die Falten tief und grob.
Ohne dass sie dessen gewahr wurde, machten die Menschen um sie herum Platz, und sie ging von Bild zu Bild, und manche sahen ihr nach. »Ist das nicht …«, »Sieht genauso …«, »Ob sie ein Paar sind?«
Schließlich stand sie vor dem Bild Die Liebe der Marianne. Und dieses Gesicht zeigte Marianne, wie sie aussah, wenn sie liebte. Es erzählte ihr alles über ihre Kraft und ihre Stärken, alles über ihre Sehnsüchte und ihren Willen, es war die Essenz ihres Seins. Es war Freiheit darin, eine wilde Sinnlichkeit, ein Glühen.
Sie liebte wie ein brennendes Meer.
Yann trat hinter sie; sie musste sich nicht umdrehen, um es zu spüren. Und sie musste auch nicht fragen, ob Yann sie zurückgehalten hätte, die Bilder hatten mit ihrer Wucht diese unnötige Frage beantwortet.
»So siehst du mich?«, fragte sie leise.
»So bist du«, sagte der Maler.
So bist du, in deiner Seele spielen alle Farben.
Marianne drehte sich zu Yann um.
»Das ist ein neues Gesicht. Wie soll ich das nennen?«, fragte er.
Marianne sah Yann an, und sie spürte so intensiv, dass sie mit diesem Mann eine ganze Menge aus den Tagen, die ihr noch blieben, machen konnte, und dass sie niemals wieder auf dieses Gefühl verzichten würde. In einem Meer von Möglichkeiten, das sich vor ihr ausbreitete, war die Entscheidung für diesen Mann eine der leichtesten. Natürlich, sie konnte da hinausgehen in die Welt und noch mehr Männer lieben, andere, größere, kleinere, mit anderen Lachfältchen und mit anderen Augen, in denen Sterne oder Bergseen oder Schokoladenplätzchen funkeln
Weitere Kostenlose Bücher