Homicide
Wenn in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt, damit du es in Besitz nimmst, einer auf freiem Feld ermordet aufgefunden wird und man nicht weiß, wer ihn erschlagen hat,
dann sollen deine Ältesten und Richter hinausgehen und feststellen, wie weit die Städte ringsum von dem Ermordeten entfernt sind.
Wenn feststeht, welche Stadt dem Ermordeten am nächsten liegt, sollen die Ältesten dieser Stadt eine junge Kuh aussuchen, die noch nicht zur Arbeit verwendet worden ist, das heißt, die noch nicht unter dem Joch gegangen ist.
Die Ältesten dieser Stadt sollen die Kuh in ein ausgetrocknetes Bachtal bringen, wo weder geackert noch gesät wird. Dort sollen sie im Bachbett der Kuh das Genick brechen.
Dann sollen die Priester, die Nachkommen Levis, herantreten; denn sie hat der Herr, dein Gott, dazu ausgewählt, vor ihm Dienst zu tun und im Namen des Herrn den Segen zu sprechen. Nach ihrem Spruch soll jeder Rechtsstreit und jeder Fall von Körperverletzung entschieden werden.
Alle Ältesten dieser Stadt sollen, weil sie dem Ermordeten am nächsten sind, über der Kuh, der im Bachbett das Genick gebrochen wurde, ihre Hände waschen.
Sie sollen feierlich sagen: Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen und unsere Augen haben nichts gesehen.
Deck es zu, zum Schutz deines Volkes Israel, das du freigekauft hast, Herr, und lass kein unschuldig vergossenes Blut in der Mitte deines Volkes Israel bleiben. Dann ist das Blut zu ihrem Schutz zugedeckt.
Du wirst das unschuldig vergossene Blut aus deiner Mitte wegschaffen können, wenn du tust, was in den Augen des Herrn richtig ist.
Das Buch Deuteronomium, 21:1–9
Bei Kontaktwunden wurde der Lauf der Waffe direkt an den Köper gehalten … Der äußere Rand der Eintrittswunde ist durch den heißen Rauch angesengt und vom Ruß geschwärzt. Der Ruß ist so in die versengte Haut eingebrannt, dass man ihn weder durch Waschen noch durch heftiges Schrubben von der Wunde entfernen kann.
V INCENT J.M. D I M AIO M.D.,
Gunshot Wounds: Practical Aspects of Firearms,
Ballistics and Forensic Technique
ANTE MORTEM
von R ICHARD P RICE
Jimmy Breslin schrieb einmal über Damon Runyon: »Er machte, was alle gute Journalisten machen – er hing herum.« Aber für
Homicide,
seinen Bericht über ein Jahr im Leben des Morddezernats von Baltimore, hing David Simon nicht nur herum: Er schlug dort sein Zelte auf. Als Reporter und Drehbuchautor ist Simon fest davon überzeugt, dass Gott ein erstklassiger Schriftsteller ist und
dabei zu sein,
wenn Er sein ganzes Können entfaltet, nicht nur erlaubt, sondern ehrenwert und unabdingbar ist im Kampf für das Gute. Simon ist ein begnadeter Faktensammler und Analytiker, aber er ist auch ein Junkie. Seine Sucht: Zeugnis ablegen.
Ich weiß, wovon ich rede – ich kenne das aus eigener Erfahrung. Die Sucht zeigt sich etwa so: Was wir auch draußen auf der Straße sehen – bei der Polizei, bei den Dealern, bei den Menschen, deren Leben ein Minenfeld ist, auf dem sie sich und ihre Familien jeden Tag aufs Neue durchzubringen versuchen –, es verstärkt bloß unseren Wunsch, noch mehr zu sehen, endlos herumzuhängen bei allen, die uns um sich dulden, und eine Art urbaner Urwahrheit aufzudecken. Unser Abendgebet lautet: Mein Gott, bitte lass mich nur noch einen Tag, noch eine Nacht etwas sehen, etwas hören, das sich als Schlüssel, als goldene Metapher für all das erweist, so wie jeder fertige Zocker weiß, dass beim nächsten Wurf seine Zahlen kommen. Die Wahrheit ist gleich um die Ecke zu finden, im nächsten achtlos hingeworfenen Satz, in der nächsten Funkmeldung, in der nächsten Übergabe eines Drogenpakets, bei der nächsten Absperrung eines Tatorts, während die Bestie Baltimore, oder New York, oder jede andere Stadt in Amerika gleich einer Sphinx, deren Rätsel niemand zu lösen vermag, unermüdlich eine umnachtete Seele nach der anderen verschlingt.
Vielleicht sind wir beide aber auch einfach nur auf besondere Weise unfähig, eine Deadline einzuhalten …Ich lernte Simon am 29. April 1992 in New York kennen, am dem Abend, an dem in Los Angeles wegen des Freispruchs der Polizisten im Fall Rodney King Unruhen ausbrachen. Wir hatten beide soeben gewichtige Werke veröffentlicht: Simon das, welches Sie gerade in Händen halten, ich meinen Roman
Clockers.
Unser gemeinsamer Lektor John Sterling hatte uns zusammengebracht. Es war ein geradezu komischer Augenblick: »David, das ist Richard; Richard, David. Ihr solltet
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