Die Morgenlandfahrt
Blut des Lebens aus unsrer Gruppe fort. Es brachen erst Meinungsverschiedenheiten, dann offene Streitig-keiten aus um die unnützesten und lächerlichsten Fragen. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß unser so beliebter und verdienstvoller Kapellmeister, der Violinspieler H. H., plötzlich die Behauptung auf-stellte, der entlaufene Leo habe in seinem Träger-sack unter ändern Wertgegenständen auch den uralten heiligen Bundesbrief, die Urhandschrift des Meisters, mitgenommen! Es wurde über diese Frage allen Ernstes tagelang gestritten. Symbolisch genommen war H.s absurde Behauptung freilich
merkwürdig sinnvoll: in der Tat war es, als sei mit dem Abgang Leos unsrer kleinen Heeresgruppe der Segen des Bundes, der Zusammenhang mit dem
Ganzen, völlig verlorengegangen. Ein trauriges Beispiel war ebenjener Musiker H. H. Bis zum Tag von Morbio Inferiore einer der treuesten und gläubigsten Bundesbrüder, außerdem als Künstler beliebt und trotz mancher Charakterschwächen eins unsrer lebendigsten Mitglieder, verfiel er jetzt in Grübelei, Depression und Mißtrauen, wurde in seinem Amt mehr als nachlässig, begann unverträglich, nervös, streitsüchtig zu werden. Als er schließlich eines Tages auf dem Marsche zurück-blieb und sich nicht wieder einfand, kam niemand auf den Gedanken, seinetwegen haltzumachen und nach ihm zu forschen, die Fahnenflucht war evi-dent. Leider war er nicht der einzige, und am Ende ist von unsrer kleinen Fahrtgruppe nichts übriggeblieben...«
Bei dem ändern Historiker fand ich diese Stelle:
»Wie mit Cäsars Tode das alte Rom oder wie mit Wilsons Fahnenflucht der demokratische Welt-gedanke, so brach mit dem unseligen Tag von Morbio unser Bund zusammen. Soweit hier von Schuld und Verantwortungen gesprochen werden darf, waren schuldig an diesem Zusammenbruch zwei anscheinend harmlose Mitbrüder: Der Musiker H. H. und Leo, einer der Diener. Diese beiden, bis dahin beliebte und treue Anhänger des Bundes, wennschon ohne Verständnis für dessen weltge-schichtliche Bedeutung, diese beiden waren eines Tages spurlos verschwunden, nicht ohne manche wertvolle Besitztümer und wichtige Dokumente mitlaufen zu lassen, was darauf schließen läßt, daß die beiden Elenden von mächtigen Gegnern des Bundes gekauft worden sind...«
Wenn das Gedächtnis dieses Geschichtschreibers so sehr getrübt und gefälscht war, obwohl er sichtlich in besten Treuen und im Gefühl größter Wahrhaf-tigkeit Bericht erstattete - wo blieb da der Wert meiner eigenen Auf Zeichnungen? Wären noch zehn andre Berichte anderer Autoren über Morbio, über Leo und mich aufgefunden worden, sie hätten ver-mutlich alle zehn einander widersprochen und einer den ändern verdächtigt. Nein, es war nichts mitunsern historischen Bemühungen, man brauchte sie nicht fortzusetzen, nicht zu lesen, man konnte sie ruhig in diesem Archivfach verstauben lassen.
Ich empfand ein Grausen in mir vor allem, was ich vielleicht in dieser Stunde noch erfahren würde.
Wie verschob, veränderte und verzerrte sich alles und alles in diesen Spiegeln, wie spöttisch und unerreichbar verbarg sich das Gesicht der Wahrheit hinter allen diesen Berichten, Gegenberichten, Legenden! Was war noch Wahrheit, was war noch glaublich? Und was würde übrigbleiben, wenn ich auch noch über mich selbst, über meine eigene Person und Geschichte, die Wissenschaft dieses Archives erfahren würde?
Ich mußte auf alles gefaßt sein. Und plötzlich er-trug ich die Ungewißheit und Erwartungsangst nicht mehr, ich eilte nach der Abteilung Chattorum res gestae, suchte meine Unterabteilung und Nummer und stand vor dem mit meinem Namen be-
zeichneten Fach. Es war eine Nische, und sie enthielt, als ich den dünnen Vorhang vor ihr wegzog, nichts Schriftliches. Sie enthielt nichts als eine Figur, eine alt und mitgenommen aussehende Plastik aus Holz oder Wachs, mit blassen Farben, eine Art Götze oder barbarisches Idol schien sie zu sein, sie war für meinen ersten Blick vollkommen unverständlich. Es war eine Figur, welche eigentlich aus zweien bestand, sie hatten einen gemeinsamen Rücken. Ich starrte eine Weile enttäuscht und verwundert. Da fiel eine Kerze mir auf, die an der Nischenwand in metallenem Leuchter befestigt war. Feuerzeug lag da, ich zündete die Kerze an, hell stand nun die seltsame Doppelfigur beleuchtet.
Langsam nur enthüllte sie sich mir. Langsam und allmählich nur begann ich zu ahnen und dann zu erkennen, was sie darstellen wolle. Sie stellte eine Gestalt
Weitere Kostenlose Bücher