Die Morgenlandfahrt
nicht mehr gesehen! Aber ich wagte ihn nicht zu begrüßen, dazu war noch nicht die Zeit, ich war erwartet, ich war vorgeladen. Klingsör achtete nicht eben sehr auf uns; er nickte Leo zu, mich sah oder erkannte er nicht, und wies uns freundlich, aber entschieden hinaus, schweigend, keine Sü> rung seiner Arbeit ertragend.
Schließlich zuoberst in dem unendlichen Gebäude kamen wir in ein Dachgeschoß, wo es nach Papier und Karton roch und wo die Wände entlang, viele Hunderte von Metern, Schranktüren, Bücher-rücken und Aktenbündel starrten: ein riesiges Archiv, eine gewaltige Kanzlei. Niemand kümmerte sich um uns, alles war lautlos beschäftigt; mir kam es vor, als werde von hier aus die ganze Welt samt dem Sternhimmel regiert oder doch registriert und bewacht. Lange standen wir und warteten, um uns her eilten lautlos, mit Katalogzetteln und Nummern in den Händen, viele Archiv- und Bi-bliotheksbeamte, Leitern wurden angelegt und be-stiegen, Aufzüge und kleine Rollwagen bewegten sich zart und leise. Endlich fing Leo zu singen an.
Ergriffen hörte ich die Töne, einst waren sie mir so vertraut gewesen, es war die Melodie eines unsrer Bundeslieder.
Auf den Gesang hin kam alsbald alles in Bewegung. Die Beamten zogen sich zurück, der Saal verlängerte sich in verdämmernde Fernen, klein und unwirklich in den riesigen Archivlandschaften der Hintergründe arbeiteten die fleißigen Menschen, die Nähe aber wurde weit und leer, feierlich dehnte sich der Saal, in seiner Mitte streng geordnet standen viele Sessel, und es kamen teils aus den Hintergründen, teils aus den zahlreichen Türen des Raumes viele Obere, welche lässig auf die Sessel zugingen und allmählich auf ihnen Platz nahmen. Eine Sesselreihe um die andere füllte sich langsam, in allmählicher Steigung erhob sich der Aufbau und gipfelte in einem hohen Throne, welcher noch nicht besetzt war. Bis zum Throne hin füllte sich das feierliche Synedrion. Leo sah mich an, mit einem Blick der Mahnung zu Geduld, zu Schweigen und Ehrfurcht, und verschwand zwischen den vielen, unversehens war er weg, und ich konnte ihn nicht mehr entdecken. Wohl aber sah ich da und dort zwischen den Oberen, die sich zum Hohen Stuhl versammelten, bekannte Gestalten ernst oder lächelnd erscheinen, sah die Gestalt des Albertus Magnus, des Fährmanns Vasudeva, des Malers Klingsor und andre.
Endlich war es still geworden, und es trat der Sprecher vor. Allein und klein stand ich dem Hohen Stuhle gegenüber, auf alles gefaßt, voll tiefer Angst, aber ebenso voll tiefen Einverständnisses mit dem, was hier geschehen und beschlossen werden würde.
Hell und ruhig klang die Stimme des Sprechers durch den Saal. »Selbstanklage eines entlaufenen Bundesbruders«, hörte ich ihn ankündigen. Mir zitterten die Knie. Es ging mir ans Leben. Aber es war gut so, es mußte nun alles in Ordnung kommen. Der Sprecher fuhr fort.
»Sie heißen H. H.? Waren mit beim Marsch durch Oberschwaben, beim Fest in Bremgarten? Haben kurz nach Morbio Inferiore Fahnenflucht begangen? Sind geständig, eine Geschichte der Morgenlandfahrt schreiben zu wollen? Halten sich darin für gehindert durch Ihr Gelübde des Schweigens über Bundesgeheimnisse?«
Frage um Frage beantwortete ich mit Ja, auch die mir unverständlichen und entsetzlichen.
Eine kleine Weile verständigten sich die Oberen durch Flüstern und Gebärden untereinander, dann trat aufs neue der Sprecher vor und verkündete:
»Selbstankläger wird hiermit ermächtigt, jedes ihm bekannte Bundesgesetz und Bundesgeheimnis öffentlich mitzuteilen. Es wird ihm außerdem das gesamte Bundesarchiv für seine Arbeit zur Verfügung gestellt.«
Zurück trat der Sprecher, auseinander traten die Oberen und verloren sich wieder langsam teils im tiefen Räume, teils durch die Ausgänge, ganz still wurde es in dem ungeheuren Räume. Ich blickte mich ängstlich um, da sah ich vor mir auf einem der Kanzleitische Papierblätter liegen, die erschie -
nen mir bekannt, und indem ich sie anfaßte, erkannte ich in ihnen meine Arbeit, mein Sorgen-kind, mein begonnenes Manuskript. »Geschichte der Morgenlandfahrt, aufgezeichnet durch H. H.«
stand auf dem blauen Umschlag. Ich stürzte mich darauf, durchlas seine spärlichen, engbeschriebe-nen, vielfach durchstrichenen und korrigierten Textseiten, voll Hast, voll Arbeitsgier, voll vom Gefühl, jetzt endlich, mit höherer Billigung, ja Unterstützung, meine Aufgabe beenden zu dürfen. Wenn ich bedachte, daß kein Gelübde mir
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