Die Muse des Mörders (German Edition)
Mit etwas Glück würde die Polizei glauben, es selbst vergessen zu haben.
Für einen kurzen Moment genoss sie die warme Herbstsonne, dann trat sie an die Tür des Wohnhauses, das der Werkstatt gegenüberlag. Die einzige Chance, die ihr noch blieb, war, dass sie dort drinnen irgendetwas fand, das Olivers Geschichte untermauern konnte.
Dafür, dass René Kardos sehr wohlhabend gewesen sein musste, wirkte seine Bleibe ungewöhnlich bescheiden. Die Möbel im Wohnzimmer und in der Küche, den beiden Räumen, die sich hinter dem Laden im Erdgeschoß befanden, waren zwar nicht schäbig, aber abgenutzt und nicht unbedingt modern. Ihr fiel auf, dass es keine Bilder an den Wänden und auch sonst keine Dekoration gab. Ganz offenkundig hatte eine Frau in diesem Haushalt gefehlt, zumindest was die Einrichtung anging.
Sie durchsuchte schnell die Schränke in beiden Zimmern, doch darin befanden sich nur die üblichen Haushaltsgegenstände. So leise sie konnte, ging sie die knarrende Treppe in den ersten Stock hoch. Sie fröstelte beim Gedanken daran, dass der mörderische Goldschmied nach seinen Untaten auch diesen Weg genommen haben musste, um in den Schutz seines bürgerlichen Lebens zurückzukehren. Wenn er denn der Mörder war.
Oben angekommen sah sie sich ratlos um. Vor ihr befand sich die Tür zum Badezimmer, die halb offen stand. Zu ihrer Rechten zwei weitere Türen. Am anderen Ende des Flures führte eine schmale, verzogene Holztür vermutlich auf den Dachboden. Madeleine ließ das Bad außer Acht und öffnete die erste Tür. Dahinter lag ein Mädchenzimmer mit pinkem Teppichboden. Die Wände waren bedeckt mit gerahmten Fotos, die Marie und ihren Freund Oliver zeigten. Es gab einen hölzernen Schreibtisch mit einem Computer und bunten Mappen, wie sie wahrscheinlich jede Schülerin besaß. Als Madeleine die Stofftiere entdeckte, welche in den Ecken des Bettes und auf der Fensterbank saßen, überkam sie erneut Mitleid mit Marie, die fast noch ein Kind war.
Sie schloss die Tür wieder. Hier würde sie nichts finden und sie fühlte sich nicht wohl dabei, in der Intimsphäre des Mädchens zu wühlen. Die nächste Tür führte ins Schlafzimmer des Vaters. Sie zögerte, bevor sie es betrat. Unwillkürlich blickte sie zu dem breiten Bett, das eigentlich für zwei Personen gedacht war. Es war oberflächlich gemacht worden, bevor Kardos zum letzten Mal seine Bleibe verlassen hatte. Auch dieser Raum war auffallend schlicht. Weiße Wände und der dunkle Parkettboden, der auch im Flur lag. Keine mysteriösen alten Truhen, keine hinter Kunstdrucken versteckte Tresore in der Wand. Madeleine betrat das Zimmer. Es war vielleicht Einbildung, doch es wirkte hier drinnen deutlich dunkler als im Rest des Hauses. Sie warf einen Blick unter das Bett, nicht auf der Suche nach einem Monster, sondern nach Kisten mit persönlichen Gegenständen. Nichts. Die unordentliche Werkstatt hatte deutlich belebter gewirkt als dieser Raum. Madeleine ging zum Schrank und öffnete beide Türen gleichzeitig. Links stapelten sich Kleidungsstücke in Fächern, geschmackvoll und in gedeckten Farben. Rechts hingen ein paar Anzüge auf Bügeln.
Madeleine durchsuchte gerade die Taschen der Hosen und Jacketts, als ihr Blick auf einen vergilbten Schuhkarton fiel, der in der hintersten Ecke am Boden des Schrankes stand. Sie ging in die Knie, wobei ihre Gelenke protestierend ächzten, und zog den Karton hervor. Sie hob den Deckel und feiner Staub wirbelte durch die Luft. Anscheinend war er lange nicht mehr geöffnet worden. Nervosität machte sich in ihr breit. Zuoberst lag eine Mappe, ähnlich denen, die sie in Maries Zimmer gefunden hatte, nur älter. Sie ging die Dokumente, die darin eingeheftet waren, durch. Zeugnisse, die Kopien eines Gesellen- und eines Meisterbriefes. Sie legte die Mappe zur Seite und warf einen Blick auf die Sachen darunter. Ein abgelaufener Reisepass und Maries Geburtsurkunde. Auf dem Boden der Kiste stapelte sich der vielleicht interessanteste Teil ihres Inhalts. Alte Fotos, etwa zwanzig an der Zahl. Das spärliche Privatleben eines Mannes, der nur für seine Arbeit gelebt hatte. Viele der Bilder zeigten ein blondes kleines Mädchen, das Marie sein musste. Ein paar andere Fotos waren knittrig und vergilbt. Darauf war vermutlich die Familie des Goldschmiedes zu sehen und auf einem er selbst im Alter von vielleicht zehn Jahren. Das half ihr alles nicht weiter. Sie seufzte auf, da fiel ihr Blick auf ein Foto, das ihre
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