Die Nachhut
Kameraschwenk geschmeidig aus, planierte mit seinen Cowboystiefeln alle Maulwurfshügel im Weg und drehte sogar Interviews beinahe wackelfrei ohne Stativ.
Vor ein paar Zelten hockten Jugendliche und lauschten einem Liedermacher, der barfuß auf einem Leiterwagen stand. Unter seiner Gitarre trug er einen ausgeleierten Strickpullover, der sich am Rollkragen schon mit dem Vollbart zu verfilzen begann. Der ganze Kerl sah aus, als wolle er die eigene Zunft veralbern, aber offenbar meinte er es ernst. Sein Publikum kannte alle Lieder auswendig, Mädchen vor allem blinzelten den alten Sack ungeschminkt an, dabei waren die meisten kaum älter als 25, weder dick noch hässlich, und nach einer Dusche hätte man jede zweite glatt mit in die Stadt nehmen können, mit anderen Klamotten sogar in einen angesagten Club. Aber so?
So trottete ich meinen Kollegen seit Stunden hinterher, beladen mit Taschen, Gurten und allem Krempel, den ein altmodischer Kameramann sonst noch zu brauchen glaubt - und natürlich mit einem Auge immer bei seinem Schnurrbart.
Allein dieser Bart! Buschig war gar kein Ausdruck dafür. Es war ein wildes Gestrüpp aus grauen Drähten und weit mehr als das übliche Statussymbol aller Kameramänner jenseits der 50. Busch benutzte ihn als Taschentuch und bewahrte von jeder Mahlzeit ein paar Reste darin auf. Eingeweihten aber diente der Schnauzer vor allem als zuverlässiger Seismograf: Das kleinste Zucken galt als Erdbebenwarnung. Vibrierte er schon, nutzte auch Wodka nichts mehr.
Ganze Drehtage hatte Busch mit seinen Wutanfällen schon versaut, Auftraggeber vergrault, drauf geschissen. Selbst wenn er mal recht hatte - bevor Praktikantinnen weinten oder sich Interviewpartner bei der Chefredaktion beschwerten, achtete ich lieber auf das Frühwarnsystem.
Und so hatte es, seinem Schnurrbart sei Dank, zumindest zwischen uns beiden nie größeren Ärger gegeben, bis auf das Übliche bei etwa 30 Jahren Altersunterschied unter Kollegen, also gefühlten 100.
Komisch, und das darfst du mir bitte nicht übel nehmen, Evelyn: Aber bis ich dich näher kannte, hat mich auch das genaue Alter von Busch nie gekümmert. Eher fragte ich mich, wie oft er für die Dauerwelle in seinen dünnen, grauen Locken unter der Haube saß, warum er sich nicht mit der gleichen Hingabe um seinen Bart kümmerte und wie das alles überhaupt einmal Mode gewesen sein konnte? Lauter Dinge, die man dann doch nie fragt. Er war einfach alt für mich, vielleicht 55, vielleicht auch fünf Jahre mehr. Nachmittags sah er meistens älter aus.
Es war schon spät am Nachmittag, als ich mir langsam Sorgen zu machen begann. Busch hatte seit Stunden keinen Schluck mehr verlangt, aber war noch immer bei der Sache, als ginge es um eine dieser großen Demonstrationen der 70er oder 80er Jahre, an die er sich - und leider auch seine jungen Kollegen - so gern erinnerte. Glaubte man seinen Geschichten, so war er seinerzeit überall dabei und immer ganz nah dran, in Brokdorf oder gegen den Nato-Doppelbeschluss, bei den Schlachten um die Startbahn Süd - oder war es Nord? Egal. Wie bei einem Kriegsveteranen, der die einzig wahre Kameradschaft beschwört, strahlten dann seine Augen. Angeblich sei es damals nicht nur um »Fun« und »Bum Bum« gegangen, wie er Musik und Lebensstil von mir grob umschrieb. Und Bilder seien das noch gewesen, Bilder! Tatsächlich muss er für seine Aufnahmen sogar ein bisschen berühmt gewesen sein - damals. Und auch deshalb kam es mir wie ein Wunder vor, dass er eine lahme Veranstaltung wie diese überhaupt länger als zehn Minuten ertrug, eine Demo ohne Wasserwerfer und Randale. Gerd jedenfalls machte das alles nichts aus, aber mich umso nervöser.
Nach jedem zweiten Song des Liedermachers kletterte ein neuer Redner auf die provisorische Bühne. Sie klagten oder prangerten an, redeten oder beteten, meist war das schwer zu unterscheiden. Nur einmal, nachdem man eine Oma auf den Wagen gestemmt hatte, kam so etwas wie Unterhaltung auf. Sie reckte ihr knochiges Fäustchen in den Himmel, zitterte vor Wut und wurde immer wieder von ihrer eigenen Stimme überholt, während sie die Tiefflieger verfluchte, die angeblich genau über ihrem kleinen Häuschen noch mal richtig Gas gaben.
Neben ihr stand ein Pfarrer und lächelte betreten. Er trug einen schwarzen Talar, hatte der Alten eben noch das Mikrofon justiert und riss es ihr sofort wieder aus der Hand, als sie mit ihren Verwünschungen fertig war. Dann gab er dem Liedermacher ein Zeichen und
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