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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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Hilfe. Er stand mir gegenüber hinter den Grabsteinen und blickte zum Haus. »Woran ist er gestorben?« fragte ich. »An nichts«, sagte Stieftaal, »es war kein Tod. Es war eine Verwechslung.« Jetzt konnte ich mich abwenden und den Hain verlassen. Als ich mich auf der unteren Treppenstufe umwandte, unsicher, ob ich vielleicht durch meine Frage eine Erinnerung in Stieftaal aufgewühlt hatte, sah ich gerade noch, wie er über den Grabstein hinweg und voller Wut auf das Grab des Antimago spuckte. Dann kam er rasch zwischen den Steinen hervor und eilte mir nach. Er hatte meinen Blick wohl nicht bemerkt.
    Wir betraten das Wohnhaus durch eine rückwärtige Pforte, ich lief hinter Stieftaal her in einem kühlen, halbdunklen Gewölbegang auf eine eng gewundene Treppe zu, die in die Küche des Hauses hinaufführte. In der Mitte des hohen Raums, auf einem diagonalen Muster aus blauen und gelben Fliesen, stand unter einer breiten, kupferner Abzugshaube das Arbeitszentrum aus zwei Herden und einer Doppelspüle, offenbar zur Versorgung größerer Gesellschaften angelegt. Tiefe Schränke an den Wänden für Geschirr, Vorräte, Gläser, an Hakenstangen hängende Töpfe, Siebe, Schöpfer und Pfannen ergänzten den Eindruck von Gastronomie. Der weißgescheuerte Tisch, beidseits von Bänken gesäumt, stand am anderen Ende des Raums, in der Nähe der Tür zum Treppenhaus. Vor langer Zeit schon, fühlte ich, war hier die Ordnung nicht mehr gestört worden, waren die Gerüche verflogen, hatte das Gesinde Herd und Tisch verlassen. Stieftaal, plötzlich behände, als sei sein Körper verjüngt, eilte durch die Küche, entnahm einem Wandschrank zwei Gläser, zog eine Flasche Rotwein aus dem Wandregal, hockte sich auf die Bank, holte einen Korkenzieher aus der Taschenfalte seiner Soutane, öffnete, goss ein, schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, »Setzen Sie sich, Sie haben bezahlt!« rief er, ich folgte und blickte in sein verwandeltes Gesicht: frischer Glanz in den Augen, und in den eben noch müden und mürrischen Zügen eine Spannung, als seien alle Rinnen und Furchen mit neuem Leben erfüllt.
    Er hob sein Glas, »Sie erlauben?«, wartete nicht auf meine Erwiderung und goss sich den Wein in einem Zug durch die Kehle, setzte ab, schenkte sich ein bis zum Rand, atmete aus wie erlöst von zu langer Entbehrung. Mir schien, er belohnte sich jetzt für die Mühen der Führung, die er vielleicht nur auf diesen Augenblick hin veranstaltet hatte. »Glauben Sie mir«, sagte er leise, »ich habe den Meister nie verraten, aber Schlimmeres gibt es nicht als diese überlebten antimagistischen Altjünglinge, die herkommen und auf leisen Sohlen durch das Gelände schleichen, als wären sie strumpfsockig in eine Moschee eingetreten, geil auf jede Berührung mit irgendwelchen Dingen, die vielleicht auch der Prophet einst mit seinen Fingern gestreift haben könnte! Man riecht ihren Glaubensschweiß, wenn sie das Gefühl haben, sie hätten über die Zeit weg dem Antimago die Hand gegeben. Sie sind keiner von denen, das sieht man gleich, mit Ihnen lässt es sich saufen ohne Getue. Wann wird mit all dem einmal ein Ende sein, frage ich Sie, wann werde ich endlich ruhig schlafen dürfen? Ich weiß es nicht, Sie wissen es auch nicht, wie sollten Sie auch, fragen Sie mich mal, wonach ich mich sehne! Ich will es Ihnen verraten. Ich sehne mich danach, dass einer kommt und mich an der Hand nimmt und ein erlösendes Wort spricht. Wollen Sie so gütig sein? Ich kann Ihnen eine Stelle zeigen, am Nordufer der Insel, da bricht sie steil in den See ab, sofort in die Tiefe. Dort führen Sie mich an den Rand, wenn Sie ein guter Mensch sind, und geben mir den entscheidenden Stoß und sprechen vielleicht ein kleines Gebet für mich. Ich kann nicht schwimmen. Es gab in den ersten Jahren hier für mich kein schrecklicheres Gefühl als das, auf einer Insel zu leben. – Aber natürlich sind Sie kein guter Mensch. Ihr reines Gewissen ist Ihnen wichtiger als eine gute Tat. Ich kann mir ein Gewissen nicht leisten. Die Zahl meiner Verbrechen übersteigt bei weitem die Speicherkapazität eines Gewissens. Außerdem war jedes meiner Verbrechen zugleich eine gute Tat für den Antimagismus, also für die Rettung der Welt, also nimmt die Verwirrung in mir kein Ende, also war ich ein Werkzeug, also unschuldig. Schuldig war Reeper. ›Tu dies, tu jenes‹, sagte er, und wir taten es. ›Die Kameras müssen an den Augen der Leute explodieren!‹ rief er, und ich gehorchte dem

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