Die Nacht der Haendler
Registrierkasse aus dem Blick, die das Zentrum des Ladens bildet. Tritt Frau Calise hinter die weiße Kasse – die Geldschublade habe ich nie geschlossen gesehen –, dann steht die Herrscherin über die Mischung aller Waren-Gerüche da wie eine verlässliche große Mutter. Vom leise rasselnden Atem gehoben, wogt ihr Busen in der rosa Strickjacke, sie muss den Kopf vorstrecken, um über die Brüstung hinweg auf die Tastatur sehen zu können. Sie bündelt große Scheine, stopft sie in die Kassenfächer, zupft kleine heraus, mit einer Behändigkeit, die man ihren knotigen Fingern nicht zutrauen will. Doch seit einigen Monaten greift sie bedächtig nach dem ihr hingeschobenen Geld, reibt kurz das Papier zwischen Zeigefinger und Daumen, scheint manchmal nachzudenken, für einen Augenblick nur, als schösse ihr ein Gedanke durch den Kopf, den sie bislang noch nie gehabt hat und den sie nicht verscheuchen kann. Nicht, dass sie den Schein auf seine Echtheit prüfte – nein, als ob sie nicht mehr genau wüsste, was das denn sei, das sie da in der Hand hält, hebt sie manchmal den Kopf, die grauen, dünnen Locken zittern, die Augen richten sich auf einen unbekannten Raum in der Ferne, und ihr weiches, aus zahllosen Hautbuckeln und Wülsten gefügtes Gesicht spannt sich für einen Moment, bevor sie – der Kopf neigt sich dann mit einem fast gewaltsamen Ruck wieder zur Kasse – sich selbst zurückruft in den Augenblick und den Geldschein zu den übrigen stopft. Dies alles geschieht nicht in der Ausführlichkeit, mit der ich es Ihnen beschreibe, sondern unmerklich – und doch sind es die für alte Kunden sichtbaren und fremden Regungen der Krämerin, in denen sich eine Änderung der Verhältnisse ankündigt. Ich bin sicher, dass Signora Calise – die wohl stets nur mit Bargeld und selten mit Schecks zu tun hatte und noch weniger als ich eine Vorstellung von den unfasslichen, lediglich in den Computern existierenden und blitzschnell zwischen Tokio, London, New York und Frankfurt transferierten Geldmengen, Termingeschäften und Termin-Termingeschäften, Derivaten und Kredikreditkrediten hat – in den winzigen Abirrungen ihres Kopfes voraussieht, was kommen wird; dass sie das Ende jeder Verlässlichkeit ahnt, ohne sich selbst oder gar anderen mitteilen zu können, was ihr und uns bevorsteht: der Abschied von jenem Lebensmaß, das ein Bettler in Mumbai mit einem Milliardär in Chicago gemeinsam hat: dem Geld. Die Schäden würden, schrieb vorgestern ein Kommentator der Imperia , die eines Atomkrieges überschreiten. Vielleicht übertreibt er, aber da Sie selbst von einer »Welttragödie« sprechen und ich Ihrem Urteil ohne Einschränkung vertraue, will ich gern versuchen, die geringe Aussicht, die noch besteht, den Untergang zu verhindern, durch meinen Beitrag nach Möglichkeit zu erhöhen. Ich habe ja weder politische Macht, noch, was bedeutsamer wäre, Einfluss auf die Geldgeschäfte, deren magische innere Mechanik sich mir ganz verbirgt, aber durch besondere Umstände und Erfahrungen meines Lebens bin ich möglicherweise in der Lage, ihrem Wunsch gemäß zu berichten, wie das, worauf wir in einem jetzt noch nicht erkannten Maß zusteuern, mit geradezu philosophischer Konsequenz und terroristischer Entschlossenheit in die Wege geleitet wurde. Ja, lieber Milliardär – oder besitzen Sie inzwischen Billionen? – Sie werden fast alles verlieren; und Ihrer Bitte, wenigstens vorab zu erfahren, warum dies so sein wird, entspreche ich gern. Aber ich kann die Lage nur erklären, nicht ändern. Eigentlich kann ich nur erzählen, und Sie mögen daraus Ihre eigenen Schlüsse ziehen.
Es geht uns ja auch längst nicht mehr darum, die Welt zu verändern – wir sollten vielleicht lernen, sie neu zu interpretieren, bevor wir auf die alten, untauglichen Rezepte zurückgreifen. Ich muss freilich Ihre Hoffnung auf eine schnelle Antwort einschränken, da ich gezwungen bin, den Umfang eines üblichen Briefes zu überschreiten. Auf Ihre Kinderfrage »Warum?« kann ich Ihnen nicht in drei, vier, womöglich einander widersprechenden Sätzen antworten, sondern ich muss und will Ihnen dafür eine Geschichte von Gründen erzählen. Denn der Weg des Geldes ist verschlungen. Und so verschlungen ist auch der Grund seiner Zerstörung. Sie schrecken hoch, mein Freund? Ja. Um nicht weniger geht es: Die Zerstörung des Geldes . Sie möchten es weniger endgültig? Nein, es geht nicht um einen Börsenkrach, Finanz-GAU, Schwarzen Freitag oder Montag. Es
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