Die Nacht der Haendler
verlassen. Er lief die Stufen hinunter, raffte auf der Terrasse hastig seine Sachen zusammen, steckte den Packen Papier tief zwischen die Weißwäsche, lud sich Ballen und Teppiche auf und rannte den Weg entlang zu der kleinen Straße, hinunter ins Dorf. Die Hunde jaulten hinter ihm her. Noch immer war niemand zu sehen auf dem Platz vor der Kirche, doch der Händler zwang sich, langsam zu gehen, weil er wusste, dass Menschen mit gutem Gewissen das tun. Warum nur hatte er die Briefe mitgenommen, warum sich nicht einmal die Mühe gemacht zu untersuchen, ob der Alte, der sie geschrieben hatte, tot war oder bloß seinen Rausch ausschlief? Und wenn er tot war? Man würde gewiss ihn, den dunkelhäutigen Händler, des Mordes verdächtigen, irgendjemand musste ihn ja gesehen haben, es gab in diesen ausgestorben liegenden Dörfern immer jemanden, der hinter einem Fenster saß und die leere Straße im Blick behielt. Am besten warf er die Briefe irgendwo ins Gebüsch? Aber ein Wind würde kommen und die Blätter aufwirbeln, bis hinauf in die Oliventerrassen, und bei der Ernte am Vormittag würde man, eines zumindest, entdecken, die Schrift erkennen, den Toten finden, den Mörder suchen … Nein, er musste sie bei sich behalten. Und weit vom Dorf sein, wenn jemand hinauf zu dem Haus ging, weil die Hunde nicht aufhörten zu jaulen. Er würde die Briefe mit sich tragen bis an die Küste und sie dort ins Meer werfen. Das Meer trug alles fort, nahm alles auf, ließ alles vergessen. Das Meer würde die Briefe lesen und auswaschen und ihre Wörter auflösen in seiner unendlichen Weite, und es würde ihm verzeihen. Ja. Das Meer würde ihm verzeihen.
1
IHR BRIEF, LIEBER FREUND, hat mich auf Umwegen hier in den Bergen Liguriens erreicht, wo Giacco, der Postfreiwillige, ihn mir am Karfreitag aus dem Dorf Pantasina herauftrug – der stets frohgelaunte Sohn der Krämerin übergab ihn mir mit Stolz in der Miene, »aus Amerika«, sagte er, atemlos vom zu raschen Aufstieg, und ich reichte ihm eine Schale Milch. Den Boten steht ein Glas Wein zu. Aber Giacco scheint mir dafür noch zu jung zu sein. »Du hättest heute eigentlich nicht heraufkommen müssen und könntest neben deiner Mutter ruhig in der Kirche sitzen«, sagte ich, und er lachte. Von Ihrem berühmten Namen auf dem Absender ungeduldig geworden, wartete ich, bis er ausgetrunken hatte und zwischen den Olivenbäumen jenseits meiner kleinen Terrasse verschwunden war, riss Ihren Brief auf und las mit wachsender Beunruhigung, was Sie bewogen hat, mir nach so vielen Jahren, in denen wir kein Zeichen voneinander erhielten, zu schreiben. Ich beeile mich, Ihnen zu antworten, denn die Sache duldet offenbar keinen Aufschub. Auch in den hiesigen Zeitungen ist von kaum etwas anderem mehr die Rede als von dem Zusammenbruch der großen Finanzmärkte, und vermutlich zu Recht wird befürchtet, dass unversehens das dicht geflochtene Geldgewebe der Welt zerreißen und die meisten von uns ins Bodenlose stürzen lassen könnte. Weniger solche wie mich vielleicht, die es gelernt haben, zurückgezogen und einfach zu leben. Gewiss aber solche wie Sie, lieber Freund. Noch übertönen die abwiegelnden Kommentare die Panik; man befürchtet, dass gerade die Angst vor dem Zusammenbruch ihn herbeiführen könnte. Immerhin aber hat die Ahnung von der Katastrophe, auf die wir zusteuern, bereits die hiesigen TV-Sender dazu bewogen, jede Stunde die Börsenkurse zu senden. Es gibt Menschen, die spüren, was kommt, ohne die geringste Vorstellung davon zu haben, wie es sich ereignen wird. Seit Monaten schon fällt mir auf, dass Giaccos Mutter, Signora Calise, in ihrem Dorfladen die Geldscheine anders entgegennimmt als früher. Sie herrscht wahrhaft unbestritten in ihrem getürmten Durcheinander von Mortadella und Espressokannen, Käselaiben und Gummiwärmflaschen, Ölfässchen, Oliven, Kinderwäsche und Flüssiggasbehältern, die sie »Bomba« nennt; niemand könnte ihr unterstellen, dass sie nicht fest mit beiden Beinen auf dem Boden stünde oder gar, neben ihrer Verehrung der mater dolorosa , einem Hang zum Übersinnlichen nachgeben würde. Es gibt keine bessere Realistin als sie, die sich in den engen Gassen zwischen Regalen und Gemüsekisten schwerhüftig hin- und herschiebt, meist drei oder vier Kunden gleichzeitig bedient, einem weiteren den Weg ins Lager weist, wo neben Mehl- und Reissäcken die Telefonkabine steht. Unermüdlich hält sie das Dorfgespräch in Gang und verliert dabei niemals ihre
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