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Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Titel: Ein Hummer macht noch keinen Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Wekwerth
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I ch bin ein Sechsundsechziger-Jahrgang. Nach der chinesischen Astrologie ein Feuerpferd. Das ist etwas ganz Besonderes. Ich bitte Sie, wer will schon ein Affe sein oder ein Hahn? Oder eine Ziege? Allerdings sollen Frauen, die in einem Feuerpferd-Jahr geboren werden, Unheil über die eigene Familie und die ihres Ehemannes bringen. Angeblich wurde deswegen 1966 in Japan vermehrt abgetrieben. Auch die Sterblichkeitsrate weiblicher Babys stieg in dieser Zeit stark an. Nun, meine Eltern sind keine Japaner. Und auch keine Chinesen. Und einen Ehemann habe ich auch nicht. Wie komme ich darauf? Manchmal rede ich einfach zu viel. Sie fragten nach meiner ersten Kindheitserinnerung. Ich erinnere mich an die Mondlandung.«
    »An was genau erinnern Sie sich?«
    »Daran, dass mein Vater ganz aufgeregt war und mir etwas im Fernsehen zeigte. Ich sah eine groteske, weiße Schaummaus, die herumhüpfte und komische Geräusche machte, und blieb unbeeindruckt. Dass es die Bilder der Mondlandung waren, habe ich erst viele Jahre später begriffen. 1969 war ich noch nicht mal drei Jahre alt, und das Verhalten meines Vaters gefiel mir gar nicht: Er riss die Gardinen aus den Schienen und deutete mit fuchtelnden Armen hinaus. Dort sah ich … den erleuchteten Funkturm. Wir wohnten gleich gegenüber vom Zentralen Busbahnhof, in der Nähe des Messegeländes. Das ICC war damals noch nicht gebaut. Das kam erst später dazu und vervollständigte die glitzernde Berliner Skyline, die ich jahrelang vor Augen haben würde.«
    »Sie drücken sich ja geradezu poetisch aus.«
    »Ich mag wohlformulierte Worte. So bekommt das Gesagte mehr Tiefgang.«
    »Erzählen Sie weiter.«
    »Was soll die Aufregung, fragte ich mich, der Funkturm war doch schon immer da. Er gehörte zum ersten Wortschatz, den ich überhaupt besaß: Papa, Mama, Funkturm.
    ›Auf dem Mond!‹, schrie mich mein Vater an. Na und, dachte ich. Den Mond sah ich sowieso jeden Abend, egal, ob er am Himmel stand oder nicht. Es gab nämlich im Fernsehen diesen Bären, kennen Sie den noch? Diese Zeichentrickfigur, die kurz vor zwanzig Uhr auftrat? Oh! Mein! Gott! Was für einen Blödsinn Sie sich anhören müssen.«
    »Reden Sie weiter.«
    »Der Bär schaukelte um die Spitze des Funkturms herum, die sich dabei hin und her bog wie eine Gummischlange, und plötzlich ließ der Bär los, segelte durch die Luft und landete butterweich in der Mondsichel, die wie eine Wiege hin- und herschaukelte. Das Bärchen deckte sich mit einer Wolke zu und schloss die Augen, und eine abschließende Melodie ertönte. Abend für Abend. Und ich fühlte so etwas wie Verachtung für meinen Vater, dass er sich dermaßen aufregen musste, bloß weil er vielleicht gerade das Bärchen gesehen hatte. War doch klar, dass es immer wieder dort oben herumturnte.«
    »Was fällt Ihnen dazu noch ein?«
    »Wissen Sie, es hallt mir immer noch in den Ohren, dieses ›Auf dem Mond‹. Als hätte ich Wesentliches in meinem Leben bis heute nicht begriffen.«
    »Die Zeit ist um.«
    Natalie Schilling stand auf, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie fühlte sich ein wenig benommen. Es ermüdete sie, sich selbst reden zu hören. Sie hatte den Eindruck, im Laufe ihres Lebens Erfahrungen angesammelt zu haben wie alte Handtaschen in der Tiefe ihres Kleiderschranks, aber ohne einen Hauch von Bewusstwerdung einfach immer weiterzuleben.
    Ihre gelegentlichen, völlig unvorhersehbaren Weinkrämpfe (letzte Woche zum Beispiel, beim Kauf einer Schachtel belgischer Meeresfrüchte-Pralinen) führte sie auf diese Tatsache zurück, und ihre Angstanfälle auch. Neulich, als sie eine nie benutzte Nudelmaschine in den Keller bringen wollte, hatte sich die Überzeugung, dass hinter dem Heizrohr ein mordlustiger, Gollum-artiger Zwerg hockte, der vor lauter Vorfreude, ihr gleich einige Gliedmaßen abzusägen, bereits leise knurrte, wie ein klebriger Pelzkragen um ihren Hals gelegt. Ja, genau so war die Empfindung gewesen: ein klebriger Pelzkragen um ihren Hals , das musste man sich mal vorstellen. Laut schreiend und um sich schlagend war sie die Treppe wieder nach oben gerannt. Die Nudelmaschine war ihr dabei aus den Händen geglitten und mit einem hohlen Geräusch kaputtgegangen. Wieder in ihrer Wohnung angelangt, hatte sich Natalie geschämt. Wie eine Fünfjährige, die zu viele Herr-der-Ringe- DVD s hintereinander gesehen hatte, führte sie sich auf. Aber zurück in den Keller würden sie trotzdem keine zehn Pferde bekommen. Irgendetwas hatte hinter dem

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