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Die Nacht der Wölfin

Die Nacht der Wölfin

Titel: Die Nacht der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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feinen Abstufungen, die mein Gehirn immer noch in Blaus und Grüns und Rots übersetzt. Ich hebe die Schnauze und atme ein. Mit der Wandlung haben sich meine ohnehin wachen Sinne noch mehr geschärft. Ich fange die Gerüche von frischem Asphalt und faulenden Tomaten und Chrysanthementöpfen auf Fensterbrettern und tagealtem Schweiß und tausend anderen Dingen auf; sie mischen sich zu einem so überwältigenden Brodem, dass ich huste und den Kopf schüttele. Beim Umdrehen erhasche ich verzerrte Fragmente meines Spiegelbilds in einem verbeulten Mülleimer. Meine Augen starren mir ins Gesicht. Ich ziehe die Lippen zurück und fauche mich selbst an. Weiße Reißzähne blitzen auf dem Metall.
    Ich bin ein Wolf, ein hundertdreißig Pfund schwerer Wolf mit hellblondem Pelz. Das Einzige, was mir an Menschlichem noch geblieben ist, sind die Augen; sie glitzern vor kalter Intelligenz und einer schwelenden Wildheit, die niemand jemals einem Tier zuordnen würde.
    Ich sehe mich um, atme die Gerüche der Stadt ein. Ich bin nervös hier. Es ist zu eng, zu beengt; der Menschengeruch ist überall. Ich muss vorsichtig sein. Wenn jemand mich jetzt sieht, wird er mich für einen Hund halten, einen großen Mischling, eine Kreuzung aus Husky und Labrador vielleicht. Aber selbst ein Hund kann die Leute erschrecken, wenn er meine Größe hat und frei herumläuft. Ich mache mich auf zum Ende der Gasse und suche mir meinen Weg durch die Eingeweide der Stadt.
    Meine Gedanken sind wirr und trübe, verwirrt nicht durch die Verwandlung meiner äußeren Gestalt, sondern durch die Unnatürlichkeit meiner Umgebung. Ich habe die Orientierung verloren, und der erste Durchgang, in den ich einbiege, stellt sich als der heraus, den ich schon in menschlicher Gestalt ausprobiert habe, der mit den beiden Männern in dem ausgeblichenen Sony-Karton. Einer von ihnen ist inzwischen wach. Seine Finger zupfen an den Resten einer dreckverkrusteten Decke herum, als könnte er sie weit genug ausdehnen, um sich damit gegen die kalte Oktobernacht zu schützen. Er blickt auf und sieht mich, und seine Augen weiten sich. Er beginnt zurückzuweichen, dann hält er inne. Er sagt etwas. Er spricht in einem Singsang, dem übertrieben melodischen Tonfall, den die Leute kleinen Kindern und Tieren gegenüber verwenden. Wenn ich mich konzentrierte, könnte ich die Worte verstehen, aber dafür gibt es keinen Anlass. Ich weiß ohnehin, was er sagt, es ist irgendeine Variante von ›braves Hundchen‹, wieder und wieder mit unterschiedlicher Betonung. Die Hände hat er ausgestreckt, die Handflächen nach vorn, um mich abzuwehren, gesprochene Sprache gegen Körpersprache. Bleib weg – braves Hundchen – bleib weg. Und dann wundern sich die Leute, warum Tiere sie nicht verstehen.
    Ich kann die Verwahrlosung und den Verfall riechen, die von seinem Körper ausgehen. Er riecht nach Schwäche, wie ein alterndes Stück Wild, das an den Rand der Herde gedrängt wurde, ein gefundenes Fressen für Raubtiere. Wäre ich hungrig, würde er nach Abendessen riechen. Glücklicherweise bin ich noch nicht hungrig, also brauche ich mich nicht mit der Versuchung auseinander zu setzen, dem Zwiespalt, dem Ekel. Ich schnaube, und Dampf schießt aus meinen Nüstern, dann drehe ich mich um und renne zurück, den Durchgang wieder hinauf.
    Weiter vorn liegt ein vietnamesisches Restaurant. Der Geruch nach Essen ist überall, er hat sich selbst in den Balken des Gebäudes festgesetzt. An einem rückwärtigen Anbau dreht sich langsam ein Abluftventilator; bei jeder Umdrehung schlägt eins der Blätter klickend gegen das Metallgehäuse. Darunter steht ein Fenster offen. Verblasste, mit Sonnenblumen bedruckte Vorhänge bauschen sich im Nachtwind. Drinnen höre ich Menschen, ein ganzes Zimmer voll Menschen, die im Schlaf grunzen und pfeifen. Ich will sie sehen. Ich will meine Schnauze durch das offene Fenster strecken und ins Innere schauen. Für einen Werwolf kann ein Zimmer voll schutzloser Leute eine Menge Spaß mit sich bringen.
    Ich beginne näher zu schleichen, aber ein plötzliches Schnarren und Pfeifen lässt mich innehalten. Das Pfeifen wird leiser, dann wird es übertönt von der Stimme eines Mannes, scharf, die Worte abgehackt wie Eiszapfen. Ich drehe den Kopf in beide Richtungen, mein Radar sucht nach der Geräuschquelle. Ich orte sie ein Stück weiter die Straße entlang. Ich lasse das Restaurant zurück und setze mich in Bewegung. Wir sind von Natur aus neugierig.
    Er steht auf einem

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