Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht Von Lissabon

Die Nacht Von Lissabon

Titel: Die Nacht Von Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
etwas Aufsehen erregt. Sie lebt, war mein erster Gedanke. Sie ist nicht tot und nicht krank! Sonderbar, daß man das immer zuerst denkt in unserer Situation! Man ist so überrascht, daß etwas noch so ist wie früher - daß jemand noch da ist.
      Sie ging weiter, rasch, zum Chor hinauf. Ich drängte mich aus meiner Bank und folgte ihr. Vor der Kommunionbank blieb sie stehen und drehte sich um. Sie musterte aufmerksam die Leute, die noch in den Bänken knieten, und kam langsam den Gang wieder zurück. Ich blieb stehen. Sie war so überzeugt, mich irgendwo in den Bänken zu finden, daß sie dicht an mir vorüberging und mich fast streifte. Ich folgte ihr. ›Helen‹, sagte ich, als sie aufs neue stehenblieb, dicht hinter ihr: ›Dreh dich nicht um! Geh hinaus! Ich werde dir folgen. Man darf uns hier nicht sehen.‹
      Sie zuckte, als hätte ich sie geschlagen, und ging dann weiter. Weshalb war sie nur hierhergekommen? Wir waren in großer Gefahr, erkannt zu werden. Aber ich selbst hatte ja auch nicht gewußt, daß so viele Menschen hier sein würden.
    Ich sah sie vor mir hergehen; aber ich spürte nichts als Sorge, so rasch wie möglich aus der Kirche zu entkommen. Sie trug ein schwarzes Kostüm und einen sehr kleinen Hut und hielt ihren Kopf sehr aufrecht und etwas schräg, als lausche sie auf meine Fußtritte. Ich blieb einige Schritte zurück, so weit, daß ich sie gerade noch sehen konnte; ich hatte öfter erfahren, daß man nur deshalb erkannt wurde, weil man zu nahe bei jemand anderem stand.
      Sie ging an den steinernen Weihwasserbecken vorbei durch das große Eingangsportal und bog sofort nach links. Am Dom entlang führte ein breiter, mit Steinplatten gepflasterter Weg, der durch eiserne Ketten zwischen Sandsteinpfählen vom großen Domplatz abgetrennt war. Sie sprang über die Ketten, ging einige Schritte in das Dunkel, blieb stehen und drehte sich um. Ich kann nicht erklären, was ich in diesem Augenblick empfand. Wenn ich sage, daß mir so war, als ginge mein ganzes Leben dort vor mir her, scheinbar weg von mir, und drehte sich plötzlich um und sähe mich an - so ist das wieder ein Klischee, und es ist wahr und nicht wahr, aber trotzdem fühlte ich es, doch das war nicht alles, was ich fühlte. Ich ging auf Helen zu, auf ihre schmale, dunkle Gestalt, auf ihr bleiches Gesicht und auf ihre Augen und ihren Mund, und ich ließ alles hinter mir, was gewesen war. Die Zeit, in der wir nicht zusammengewesen waren, versank nicht; sie blieb, aber wie etwas, das ich gelesen hatte, nicht erlebt.
      ›Wo kommst du her?‹ fragte Helen fast feindselig, bevor ich sie erreicht hatte.
    ›Aus Frankreich.‹
    ›Haben sie dich hereingelassen?‹
      ›Nein. Ich bin schwarz über die Grenze gekommen.‹ Es waren fast dieselben Fragen, die Martens gestellt hatte.
    ›Warum?‹ fragte sie.
    ›Um dich zu sehen.‹
    ›Du hättest nicht kommen sollen!‹
    ›Ich weiß. Ich habe mir das jeden Tag gesagt.‹
    ›Und warum bist du gekommen?‹
    ›Wenn ich das wüßte, wäre ich nicht hier.‹
      Ich wagte nicht, sie zu küssen. Sie stand dicht vor mir, aber so starr, als könne sie zerbrechen, wenn man sie berührte. Ich wußte nicht, was sie dachte, aber ich hatte sie wiedergesehen, sie lebte, und nun konnte ich gehen oder dem entgegensehen, was käme.
    ›Du weißt es nicht?‹ fragte sie.
      ›Ich werde es morgen wissen. Oder in einer Woche. Oder später.‹ Ich sah sie an. Was war zu wissen? Wissen war ein bißchen Schaum, der über eine Woge tanzt. Jeder Wind konnte ihn wegblasen; aber die Woge blieb.
      ›Du bist gekommen.‹ sagte sie, und ihr Gesicht verlor die Starre, es wurde sanft, und sie trat einen Schritt näher. Ich hielt sie bei den Armen, und ihre Hände waren gegen meine Brust gepreßt, als wolle sie mich noch abwehren. Ich hatte das Gefühl, als ständen wir lange Zeit so einander gegenüber auf dem schwarzen, windigen Domplatz, allein, während der Straßenlärm uns nur, wie durch eine dämpfende Glaswand entfernt, matt erreichte. Links, etwa hundert Schritte entfernt, lag, der Querseite des Platzes gegenüber, das hellererleuchtete Stadttheater mit seinen weißen Stufen, und ich weiß noch, daß ich mich einen Augenblick vage darüber wunderte, daß man dort noch spielte und nicht schon eine Kaserne oder ein Gefängnis daraus gemacht hatte.
      Eine Gruppe von Leuten kam an uns vorbei. Jemand lachte, und einige sahen sich nach uns um. ›Komm‹, flüsterte Helen. ›Wir können nicht

Weitere Kostenlose Bücher