Die Nacht von Shyness
Menschen. »Bisschen dick aufgetragen, oder?«
»Ich dachte, du wolltest mir Shyness zeigen.«
»Das hier wird dir helfen, alles besser zu verstehen.«
Ich weiß nicht, was hilfreich daran sein soll, mit diesen durchgestylten Leuten rumzuhängen. Die mussten wahrscheinlich noch nie für irgendwas kämpfen, die haben keine Ahnung, wie es ist, wenn man etwas Unerreichbares unbedingt haben will. Die Sorte Menschen, für die Mum arbeitet, für die sie putzt und wäscht. Ich gebe sofort zu, dass meine Mutter ein bisschen peinlich ist – die Klamotten zu eng, das Make-up zu grell –, aber ihr müsstet mal erleben, wie ihre Arbeitgeber manchmal mit ihr umspringen.
»Ich will hier weg. Mir gefällt das nicht.«
Der Kellner kommt und stellt mit übertriebener Geste zwei Drinks auf unseren Tisch.
»Wir haben gar nichts …«, setze ich an.
»Danke.« Wolfboy schneidet mir das Wort ab, dann dreht er sich um. Ein Mann mit silbernem Haar und einer eckigen schwarzen Brille winkt uns von der Bar. Wolfboy nickt ihm zu. »Na komm. Wir trinken hier ein Glas und dann gehen wir zurück nach Shyness. Vertrau mir.«
Ich will gar nicht wissen, ob ich ihm vertrauen kann. Man kann niemandem auf der Welt trauen. Jeder muss selbst sehen, wie er klarkommt. Es ist doch so: Wenn ein Amokläufer durch unser Haus toben würde, dann würde ich mich mit meiner Mutter in unserer Wohnung verbarrikadieren und mich um die anderen auf der Etage nicht scheren. Wenn der Amokläufer in unsereWohnung käme, bin ich mir nicht sicher, ob ich mich für Mum abknallen lassen würde, oder sie sich für mich. Wenn es drauf ankommt, sind wir alle auf uns allein gestellt. Es vereinfacht das Leben, wenn man das mal kapiert hat.
»Wie kommt es, dass alle dich kennen? Ist deine Band berühmt?«
»Kann schon sein.«
Mehr sagt er nicht. Alle anderen Musiker, die ich bisher kennengelernt habe, wollten mir unbedingt von ihrer Band erzählen. Als Wolfboy sie zum ersten Mal erwähnt hat, war ich enttäuscht. Alle in meinem Alter wollen Sänger, Model oder Schauspielerin werden. Wie wäre es mal mit einer Welt, in der Krankenschwestern, Wissenschaftler oder Umweltschützer angehimmelt werden? Aber immerhin hat er mich nicht die ganze Zeit damit vollgelabert. Vielleicht macht er aus den richtigen Gründen Musik.
»Wie heißt ihr?«
»Die Long Blinks.«
Von der Band hab ich noch nie gehört, aber das wundert mich nicht. Mein Musikgeschmack ist ziemlich ungewöhnlich. Ich mag lieber die älteren, klassischen Sachen. Ich gucke keine Reality-Shows, ich hab keine Ahnung, was für Schuhe diese Woche angesagt sind. Ihr könnt euch also vorstellen, wie viel ich mir mit den anderen Mädchen in der Schule zu sagen habe.
»Was bedeutet das?«
»So nennt man den Moment kurz vorm Einschlafen, wenn der Verstand sich noch gegen den Schlaf wehrt und die Lider schwer werden. So …« Wolfboy macht esvor. Seine Augen sind von einem arktischen Blau, mit unverschämt langen Wimpern.
»Warum sollte man gegen den Schlaf ankämpfen?« Ich schlafe für mein Leben gern. Das hat wohl etwas damit zu tun, dass ich direkt nach der Schule arbeiten gehe und anschließend noch versuche Hausaufgaben zu machen.
»Weil er furchterregend ist.« Seine Miene verfinstert sich. Als würde eine Wolke über seinem Kopf hängen. »Wenn ich schlafen gehe, weiß ich nie, ob ich wieder aufwache.«
Ich will schon nachfragen, was dieser schräge Spruch bedeuten soll, als ich an meinem Drink nippe – und den Schluck beinahe wieder ausspucke. In dem Glas müssen mindestens vier Limetten sein! Silberhaar hat uns immer noch im Visier, deshalb zwinge ich mich, das Zeug runterzuschlucken und hebe das Glas anerkennend in seine Richtung. Ohne mich loben zu wollen, als Schauspielerin mache ich mich nicht schlecht.
Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und schaue zu, wie die Kaltfront über Wolfboy hinwegzieht. Ich erwische ihn in einem unbeobachteten Moment. Er sähe schon weniger wolfsmäßig aus, wenn er die Haare kürzer tragen und sich öfter rasieren würde. Das ist nicht als Kritik gemeint. Ich liebe die Szene in King Kong , die Schwarzweißfassung aus den 30ern, als King Kong Fay Wray auf der Spitze des Empire State Buildings in seiner haarigen Faust hält. Möchte nicht jeder insgeheim in den Klauen eines großen Tiers stecken? Oder empfinde nur ich so? Ich bin mir allerdings nicht sicher,ob es bei mir funktionieren würde. Ich bin ja nicht so klein und blond wie Fay Wray.
»Und, was ist nun so
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