Die Nacht von Shyness
eine u-förmige Bar, einen Poolbillardtisch und eine abgewrackte Jukebox. Von mir aus kann es ja gern etwas derber zugehen, nichts anderes bin ich gewohnt, aber Neil schaut so selbstgefällig drein, als hätte er uns für den Abend nach Paris geflogen.
»Es … ist echt eine tolle Atmosphäre hier!« Rosie trinkt einen Schluck Bier und lächelt Neil mit verschwommenem Blick an. Ich glaube, sie findet ihn gut. Wahrscheinlich ist es das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass jemand auf Neil steht. Vielleicht sollte ich die beiden einfach machen lassen.
Ich nippe an meinem Bier und es prickelt unangenehm auf den Lippen. Ich mag überhaupt kein Bier. Ich stelle das Glas wieder auf den Tisch. Jetzt warte ich fünf Minuten, bis ich den nächsten Schluck trinke, das nehme ich mir fest vor. Ich spähe zu der Uhr hinter der Theke, aber sie ist stehen geblieben. Es muss mindestens zehn sein. Montag schreibe ich eine Klausur und eigentlich müsste ich das ganze Wochenende büffeln, doch heute Abend bin ich unterwegs im Auftrag des Vergessens.
Sonst lehne ich Neils Einladungen grundsätzlich ab, aber heute wollte ich nicht allein zu Hause rumsitzen.Ich will nicht hören, wie Mum spät in der Nacht betrunken kichernd mit ihrem Internet-Date nach Hause kommt. Will nicht frühstücken, wenn irgendein Spinner auf Socken in unserer Küche rumlatscht, als wäre er der Herr im Haus.
Ich lasse die Gedanken schweifen, während Neil Rosie etwas ins Ohr flüstert und sie laut lacht. Ich verstehe nicht, wie sie seine Nähe ertragen kann. Neil streift immer wieder ›rein zufällig‹ meinen Arm, er will sich wohl alle Optionen offenhalten. Ich rücke von ihm ab, schlinge die Arme um meine Handtasche und stütze das Kinn darauf.
Um uns herum geht es ruhig zu. Nur die Anzugträger am Nebentisch machen ein lärmiges Trinkspiel. Ihr Tisch ist mit Schnapsgläsern übersät. Einer der Typen merkt, dass ich hinüberstarre, und zwinkert mir zu. So ein Perverser! Ich könnte seine Tochter sein. Schnell wende ich den Blick ab.
Und dann sehe ich ihn.
Er sitzt weiter hinten an der Bar, wo das Licht nicht hinkommt. Ein junger Typ, kaum älter als ich, blass, mit dunklen Haaren überall. Er spielt mit etwas Kleinem, Silbernem auf der Theke, das er in den Händen dreht. Er hat die Hemdsärmel hochgekrempelt, sodass ich die dichten Haare auf seinen Unterarmen erkennen kann. Hohe Stirn, volle Lippen. Diese lächerliche John-Travolta-Haartolle dürfte man ihm eigentlich nicht durchgehen lassen, aber irgendwie passt sie zu ihm.
Ich wende mich wieder Neil und Rosie zu. Das Letzte, was ein so gut aussehender Junge braucht, ist ein weiteres Mädchen, das ihn anstarrt.
Rosie und Neil lachen beide und sehen mich an, als müsste ich irgendeinen Witz auch kapieren, deshalb grinse ich. Rosie hat Lippenstift an den Schneidezähnen. Ich nippe wieder an meinem Bier und nehme mir vor, mich auf das Gespräch zu konzentrieren. Sie reden über die Kollegin in der Zentrale. Ich hasse es, über die Arbeit zu sprechen.
Und dann kann ich nicht dagegen an. Ich muss noch mal zu ihm hinsehen.
Er leert sein Glas und legt dabei den Kopf in den Nacken. Dann lässt er den Blick durch den Laden schweifen, als erwarte er jemanden. Ich halte den Atem an und beiße mir auf die Lippe.
Er sieht mich.
Sein Blick trifft meinen und ein Kribbeln wandert von meinem Bauch bis in die Finger und Zehen. Ich schaue zurück. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei. Wahrscheinlich könnte ich gar nicht weggucken, selbst wenn ich wollte.
Schließlich blinzelt er und durchtrennt das Band zwischen uns. Enttäuschung durchfährt mich. Er steht auf und schiebt sein Portemonnaie in die Gesäßtasche seiner Jeans.
»Hey!« Neil zoomt so nah heran, dass ich seinen Bieratem riechen kann. Er drückt meinen Arm. »Rosie sagt, du bist der kitzeligste Mensch, den sie kennt. Stimmt das?«
Ich schiebe Neils Hand weg und schaue an ihm vorbei. Ich will sehen, was der Typ macht. Geht er etwa? Aber wie kann er gehen, nachdem er mich so angeschaut hat?
Der schöne Typ kommt lässig, mit gesenktem Kopf auf unseren Tisch zu. Er ist viel größer, als ich dachte. Mit der engen schwarzen Jeans und dem klassisch karierten Hemd sieht er super aus. Ich richte mich auf und werfe die Haare zurück.
Ohne Vorwarnung piekst Neil mir mit dem Finger fest in den Bauch.
»Lass das!«, fauche ich und schlage wütend nach ihm. Ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand am Bauch berührt. Ich treffe Neil seitlich am
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