Die Nacht von Shyness
getäuscht.
Sie zieht ein Handy aus einer Tasche an der Taille, die mir noch gar nicht aufgefallen war.
»Entschuldigung, ich gucke nur mal, ob der Babysitter angerufen hat.« Sie klappt das Handy auf. »Nein. War nur Einbildung.«
»Du hast ein Kind?« Ich kann mein Erstaunen nicht verbergen.
Ortolan lacht, als sei sie diese Reaktion gewohnt. »Eine Tochter. Ich lasse sie abends nicht oft allein, deshalb bin ich ein bisschen nervös. Ihretwegen wohne ich hinter der Grenze und nicht direkt in Shyness. Möchtest du ein Foto sehen?«
Ihr Gesicht ist so lebendig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Mutter so strahlt, wenn sie von mir spricht. Ortolan hält mir ihre geöffnete Brieftasche hin.
Ihre Tochter posiert mit einem Pappschwert in der einen Hand und einer Taschenlampe in der anderen. Sie trägt eine viel zu große Tunika und einen unförmigen Helm aus Alufolie. Ihr Gesichtsausdruck ist irgendwas zwischen einem albernen Grinsen und einer kampflustigen Grimasse.
Ich weiß noch, wie ich mich verkleidet habe, als ich klein war. Stunden habe ich damit verbracht, verschiedene Kostüme zu basteln und Szenen mit meinen Stofftieren zu spielen.
»Die ist ja süß. Wie heißt sie?«
»Diana.«
Ein Schatten fällt auf den Tisch.
Wir beide schauen zu Wolfboy auf. Seine Augen sind dunkel und ich verfolge seinen Blick zu dem Foto von Diana. Er verzieht das Gesicht und sieht so aus, als wollte er etwas sagen, doch stattdessen geht er einen Schritt zurück und tritt hart gegen den Couchtisch. Krachend fällt der Tisch um. Einen Augenblick lang steht Wolfboy reglos da und scheint genauso erschrocken wie wir.
Dann dreht er sich um und läuft davon.
6
Ich renne auf die Grey Street, meine Stiefel schlagen auf den Asphalt, das Blut hämmert in meinem Schädel. Fast stolpere ich über die Bordsteinkante, so eilig habe ich es wegzukommen. Ich kriege keine Luft, spucke Atemwölkchen, und das kommt nicht vom Rennen. Beinahe wäre mir ein Heulen entwischt, ich muss die Zähne fest zusammenbeißen, damit es nicht rauskann.
Das Klohäuschen und der leuchtende Mini-Markt kommen in Sicht. Das Licht brennt in meinen Augen. Bestimmt zapfen sie Strom ab. So viel legalen Strom hat keiner.
Ich brauche Dunkelheit.
Kaum lässt man die beiden mal kurz allein, muss Ortolan Wildgirl schon ihre ganze Lebensgeschichte erzählen!
Willkommene Schatten locken in der nächsten Seitenstraße. Der Ahnenpark ist noch ein Stück weiter, den Hang hinunter, der sich bis zum Fluss zieht. Rechts von mir liegt Orphanville. Hier und da brennt Licht in den hohen Gebäuden. Meine Schritte werden immer langsamer, bis ich auf ein unbebautes Grundstück komme.
Ich setze mich auf Kies und vertrocknetes Gras, grabe die Finger in die Steine und spüre, wie sich der Dreck unter meine Fingernägel setzt. Reglos hocke ich da,doch in meinem Innern herrscht immer noch Aufruhr. Ich sauge die Nachtluft ein, inhaliere jeden Atemzug so tief ich kann und versuche nicht zu schaudern. Auch wenn es in Shyness nicht dunkler wird, so wird es doch kälter, wenn sich die Nacht über die Stadt legt.
Es ist ungerecht, dass Ortolan Wildgirl ein Foto von ihrer Tochter zeigt, die ich noch nicht mal kennengelernt habe. Ob sie auch über Gram gesprochen haben?
Langsam weicht die Hitze aus meinem Körper, mein Puls beruhigt sich. Die Dunkelheit ist eine schwere Decke, die mich vor fremden Blicken schützt.
Ich stecke die Hand in die Tasche und umfasse mein Feuerzeug. Ich schließe die Augen, als würde ich mir etwas wünschen. Das Metall an meinen Fingern ist kalt und glatt. Manchmal denke ich, dass Lupe recht hat: Mein Bruder ist nicht weit weg. Wenn ich mich konzentriere, sehe ich ihn genau vor mir. Er tritt aus der Dunkelheit, seine Konturen werden schärfer. Zottelhaare, Adlertattoo auf dem Bizeps. Rauchend lehnt er an seinem Chrysler Valiant und blinzelt in das helle Sonnenlicht. Er schnippt die Kippe auf den Boden. Los geht’s, Litte J.
Ein Knirschen auf dem Kies. Ich reiße die Augen auf. Auf der anderen Seite des Grundstücks erkenne ich einen rosa Fleck in der Dunkelheit und ein Paar weiße Beine. Zwei schwarze Stiefel kommen auf mich zu.
Wildgirl bewegt sich vorsichtig. Ihre Augen sind groß, zu groß. Sie bleibt ein Stück entfernt stehen, die Tasche hält sie wie einen Schild vor sich. »Hi.«
»Wie hast du mich gefunden?« Ich merke, dass es sauer klingt. Eigentlich müsste ich mich entschuldigen, aber die Worte wollen nicht kommen.
»Ich hab ein paar
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