Die Nacht von Shyness
Es ist lange her, dass irgendwer mein Leben interessant fand. Ich könnte so tun, als wäre es interessant, ein paar Stunden nur.
»Warum nicht?« Ohne langsamer zu gehen, fasst sie in ihre Handtasche und holt ihr Telefon raus. »Siehst du, mein Handy ist ausgeschaltet. Meine Mutter kann mich nicht anrufen. Nicht, dass es sie kümmern würde, wann ich nach Hause komme.«
»Du wohnst bei deiner Mutter?«
Ein gequälter Ausdruck huscht über ihr Gesicht, dann reckt sie das Kinn vor. »Ja, was dagegen?«
Ich frage mich, wo man wohl so viel über griechische Mythologie lernt. Aufs Geratewohl frage ich: »Auf welche Schule gehst du?«
»Wie kommst du darauf, dass ich noch zur Schule gehe?«
»Das weiß ich einfach. Ich seh dir an, dass du noch nicht freigegeben bist.«
Ich hab auch eine große Klappe, wenn’s drauf ankommt.Konnte ich im Diabetic trainieren, um mir bei den Stammgästen Respekt zu verschaffen. Gar nicht so einfach, schließlich kennen einige von den Alten mich noch als den Stöpsel, der mit seinem Papa Himbeerlimonade getrunken hat.
»Schwachsinn. Ich war mit Arbeitskollegen in dem Pub, klar?«
»Waren wir nicht schon so weit, dass Neil gern mehr als nur ein Kollege wäre?«
Ich sehe ihr an, dass ihr das schmeichelt, obwohl sie gereizt ist. »Southside«, gibt sie schließlich zu. »Southside Mädchen-College.«
Kenne ich nicht. Highschool ist ein ferner Albtraum. Gleich nachdem meine Eltern aufs Land abgehauen sind, bin ich da ausgestiegen.
»Dann bist du wie alt? Siebzehn?«
»Ja … und du?«
»Achtzehn. Fast neunzehn.«
In neun Monaten.
»Ooooh«, säuselt sie. »So alt schon? So reif.«
»Hör mal, ich will nicht die Verantwortung übernehmen für eine … für eine Fremde, nicht hier.« Wir bleiben stehen. Wildgirl sieht mir prüfend ins Gesicht, die Hände in die Seiten gestemmt. Ihre Haare knistern fast vor elektrischer Ladung.
So ein Mist. Keiner würde sich die Gelegenheit entgehen lassen, eine Nacht mit so einem Mädchen zu verbringen. Aber Shyness ist kein gewöhnlicher Ort und ich bin nicht gerade ein gewöhnlicher Typ. Um es mir leichter zu machen, schaue ich ihr nicht ins Gesicht, sondern auf die rechte Schulter. Es wäre für uns beidebesser, wenn ich sie rüber nach Panwood begleiten und dort in ein Taxi setzen würde. Es wäre besser, wenn ich nicht daran denken würde, ihre Hand zu halten, ihr meine Lieblingsplätze in Shyness zu zeigen und mit ihr zu reden, bis wir die Augen kaum noch offen halten können.
»Ich kann selbst auf mich aufpassen. Verdammt, ich wohne mit meiner Mum in einer Sozialwohnung, ich brauche keinen Aufpasser.«
Das würde ich ihr sogar glauben, wenn sie wüsste, worauf sie hier aufpassen muss. Heute Nacht spüre ich dieses gewisse Kribbeln, wie immer, wenn Ärger in der Luft liegt. Es ist allzu lange ruhig gewesen. Keine Schlägereien, keine Überfälle, keine Entführungen. Ich riskiere einen Blick zu Wildgirl. In ihren großen Augen schimmern Krokodilstränen und Hoffnung. Wie bei einem Kidd. So viel älter ist sie ja auch nicht.
Ich mache den Mund auf, um noch etwas dagegen zu sagen, irgendwas, doch Wildgirl kommt mir zuvor. Sie krümmt sich, als hätte sie einen Schlag in den Magen bekommen.
»Ich muss mal«, sagt sie.
vier
Ich muss aufs Klo.
Eben noch habe ich mit Wolfboy herumgezankt und ehrlich gesagt hat das ziemlichen Spaß gemacht, und eine Sekunde später habe ich das Gefühl, als würden meine Nieren gleich platzen. Ich versuche noch nicht mal, den Schmerz zu verbergen. Ich hätte das letzte Bier nicht trinken sollen. Aber ich brauchte es als Vorwand, um mit Wolfboy zu reden. Eine schwache Blase – damit kann man einen Mann so richtig beeindrucken.
»Ich muss mal wohin«, wiederhole ich.
Endlich kapiert er. Vielleicht haben die zusammengepressten Beine mich verraten.
»Wie alt bist du, sechs? Du hättest doch im Pub gehen können.«
Ich versuche über den Gehweg zu humpeln und mich gleichzeitig zu rechtfertigen. »Da musste ich noch nicht, sonst wär ich ja gegangen, oder?«
Wolfboy seufzt und hebt die Hände. »Dann gehen wir eben über die Straße und suchen was.« Er hält auf der guten Seite der Grey Street Ausschau.
Ich schätze, dass ich noch etwa dreißig Sekunden habe, bis alles zu spät ist. Zu knapp, um in jedem Laden zu betteln. Ich bin schon drauf und dran, mich in eine Gasse zu hocken, als ich an der nächsten Ecke einkleines funktionales Häuschen entdecke. Ich stolpere darauf zu. »Guck mal, da ist ja ein
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