Die Nachzüglerin (German Edition)
einem schwarzen Kopftuch mit roten
Rosen zu einem Knoten zusammengebunden. Sie
grinste mich mit ihren lustigen blauen Augen an, dabei
blitzte die Goldprothese, die ihre Schneidezähne
ersetzte.
"Von Sibirien, von der Gegend bei Omsk sind wir
beide hergekommen, meine Tochter und ich. Da ist
mir sowas nicht vorgekommen."
"Sie sind Russlanddeutsche?"
"Von der Wolga."
Und schon kam die Tochter. Es war Anna. Ich wollte
weglaufen, aber diesmal konnte ich ihr nicht
entkommen, weil ich vor der alten Frau nicht
unhöflich erscheinen wollte. Sie war sehr erstaunt
darüber, dass wir uns schon kannten.
"Warum hast du mir nicht verzählt, dass du schon eine
Freundin hast?"
Anna umarmte mich. "Das ist Franka. Meine Mutter
muss immer übersetzen."
"Du sprichst aber auch schon Deutsch." Anna freute
sich.
"Ich habe sogar schon einen deutschen Pass. Wo warst
du immer? Alexej hat Angst, wo du bist."
"Er soll lieber Angst davor haben, dass ich zu ihm
komme."
Ihre Mutter erzählte ihr auf Russisch, dass die beiden
Jugendlichen ihr Kopftuch heruntergezogen hatten.
Während sie sich weiter unterhielten, hakte Anna sich
einfach bei mir unter und führte mich aus dem Haus.
Es gelang ihr nicht nur auf Anhieb, den Ausgang zu
finden, sondern auch, mich gegen meinen Willen
mitzuschleppen. Nicht einmal, als wir in die
Straßenbahn stiegen, fragten sie, ob ich mitkommen
wollte, sie verboten mir sogar, einen eigenen
Fahrschein zu stempeln.
Wir fuhren zum Aussiedlerheim. Es war ein
Plattenbau. Das Tor war umstellt von zwei riesigen
Sperrmüllbergen. Ich konnte mir vorstellen, dass es in
Russland nicht anders aussah. Kinder spielten vor den
Hauseingängen. Großväter und Großmütter saßen auf
den Bänken davor und unterhielten sich. Die Männer
trugen Hüte, die Frauen Kopftücher. Ein paar
Heimbewohner standen um einen alten Pick-up
herum. Ein Händler verkaufte frische Makrelen. Asja
stupste mich an. "Der hat einen guten Fisch, ganz
frisch, musst dir auch einen kaufen, Salz dran machen
und braten deinem Mann."
"Er ist nicht mehr mein Mann", sagte ich trocken und
sah Anna direkt an, die so tat, als habe ihre Mutter
etwas Falsches gesagt.
"Aber Mama, deutsche Männer selber kochen."
Ich wollte jetzt endlich gehen und reichte Asja die
Hand zum Abschied, sie aber zog mich ins
Treppenhaus, in dem ebenfalls Kinder spielten.
Während sie in den zweiten Stock hoch stieg, begrüßte
sie ausführlich alle, die sie kannte, und stellte mich
stolz als Annas Freundin vor. Alle freuten sich, dass
wir uns endlich wiedergetroffen hatten. Ab und zu
bückte sie sich, um Zigarettenkippen oder anderen
Müll aufzuheben.
"Ich muss jetzt aber wirklich gehen", sagte ich, als wir
endlich oben waren. "Meine andere Freundin wartet
auf mich." Die Tür war nicht abgesperrt. Es war eine
richtige Kommunalka. Drei Parteien teilten sich eine
Dreizimmerwohnung.
Anna
und
ihre
Mutter
bewohnten das Schlafzimmer. Ich reichte Asja die
Hand zum Abschied. Sie ergriff sie und zog mich
daran ins Zimmer hinein. "Wenn der Gast einmal da
ist, lasst man ihn nimmer so leicht fort." Sie strahlte
mich an und nahm mir die Jacke von den Schultern.
Ich musste mich auf eines der beiden Betten setzen,
weil sie keine Stühle hatten. Es war nicht so einfach,
Platz zu nehmen, weil ein riesiges Federbett unter drei
verschiedenen Häkeldecken darauf lag. Anna setzte
sich neben mich, nachdem sie eine Reihe von
Rüschenkissen und Strickpuppen an den Rand
geschoben hatte. Sie brachte Bulotschki, süße
Brötchen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch
kein damit vergleichbares süßes Stück Hefegebäck
gegessen. Es schmeckte nach ihrem Dorf, nach ihren
drei Kühen, nach um fünf Uhr morgens bei 30 Grad
Kälte
aufstehen.
Ihre
himmelblauen
Augen
schimmerten feucht, als sie von ihren Kälbchen
sprach. "Auf der Kolchose habe ich gearbeitet, immer
die jungen Viecher gefüttert und ausgemistet", erklärte
sie, während sie uns schwarzen Tee und Likör auf
einem Klapptischchen servierte, den sie zwischen die
Betten gestellt hatte. Sie war eine Mutter Courage
voller niedergetrampelter, nie wahrgenommener
Zartheit. Sie hatte ihre Eltern und drei Geschwister bei
Kiew verloren. Mit vierzehn Jahren waren sie und der
einzige Bruder, der noch am Leben war, nach Sibirien
gebracht worden. Ich trank artig, immer wenn Anna
oder ihre Mutter mir einschenkten. Mich überkam ein
wonniges Glücksgefühl. Die Luft in dem kleinen
Zimmer war schwer, das Fenster war geschlossen. Am
liebsten hätte ich mich in einem der
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