Die Nachzüglerin (German Edition)
eure alten Häuser. Man sieht sogar noch die
Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg."
Wir gingen, als würden wir jede Nacht zusammen nach
Hause laufen.
"Ich würde manchmal lieber in einem neuen Haus
wohnen mit Dusche und Zentralheizung und eigenem
Klo."
"Du hast keine Toilette?" Ich musste aufpassen, dass
ich mich beim Gehen nicht auf sie stützte.
"Das Klo ist auf der halben Treppe und wird
zusammen mit den anderen Etagenbewohnern
benutzt."
"Die Häuser bei uns werden zu Tode renoviert. Sie
sehen verschlossen und leer aus. Aber es schläft sich
darin g enauso gut."
Ich blieb stehen. "Ich muss dir etwas sagen. Ich bin
verwundet, Frieda. Wie die angeschossenen Wölfe im
Schnee fühle ich mich."
"Ich weiß", sagte sie. "Das Lied ist von Wladimir
Wysozkj. Wenn ich es höre, muss ich an die
Verbannten in den sibirischen Lagern denken.
"Ich glaube, ich mag Sibirien auch nicht." Inzwischen
fiel mir auch das Sprechen schwer.
Die Straßen, durch die sie mich führte, schienen
immer finsterer zu werden. Kein Mensch war
unterwegs. Die Nacht gehörte uns, und es war kalt. Ich
drohte, wieder zu mir zu kommen und spürte wieder
den Schmerz, der seit Annas Ankunft Besitz von mir
ergriffen hatte. Frieda zog mich in den Hauseingang
eines dieser schwarzen Riesen, in denen kaum ein
Fenster erleuchtet war. Sie wohnte im zweiten
Obergeschoss. Nachdem sie das Licht eingeschaltet
hatte, führte sie mich in ihren Salon. "Du siehst nicht
nur wie eine Prinzessin aus, du wohnst auch in einem
Schloss."
Frieda lachte nur. Ich staunte über ihren hellen
Parkettfußboden und über die blank polierten Griffe
an den hohen Türen. Mehr noch beeindruckte mich
die unglaubliche Menge an Büchern, die Frieda besaß.
Überall an den Wänden waren helle Holzbretter
angebracht, auf denen nach Größe und Farbe geordnet
Unmengen von Büchern standen. Ich saß mit offenem
Mund auf einem ihrer gepolsterten Holzstühle. Frieda
amüsierte sich über meine schamlose Begeisterung und
brachte mir ein Glas Rotwein in einem Kristallglas, das
ich ungläubig in der Hand hin- und herdrehte. Als ich
am nächsten Morgen aufwachte, war Frieda nicht da.
Matt lag ich auf einer Matratze in ihrem
Arbeitszimmer. Ich war ein überflüssiger Mensch, aber
nicht so edel wie die russischen Söhne und Töchter,
die sich hinter ihren hohen Stirnen noch Revolutionen
ausdenken konnten. Aber ich war noch der Meinung,
dass ich über mein Schicksal selbst verfügen konnte.
Weil ich mich aber heute noch nicht entscheiden
wollte, beschloss ich den Tag zu verschlafen.
Am Abend bereitete mir Frieda einen türkischen
Kaffee. Obwohl ich lange mit dem Trinken gewartet
hatte, sammelte sich bitterer Kaffeesatz in meinem
Mund. Frieda trug heute ein hellblaues Kleid, das
wieder bis zum Boden ging. Sie hatte für jeden von
uns ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte mitgebracht.
Ich hatte noch nie zuvor jemandem beim Essen
zugesehen, der derart gute Manieren besaß. Dann legte
sie
auch
noch
klassische
Musik
auf.
Die
Cembaloklänge trudelten in den Hinterhof zu den
beiden verwahrlosten Katzen, die ihren Streit um eine
halb
zerfetzte
Milchpackung
für
kurze
Zeit
unterbrachen.
"Wo warst du?"
"In der Universität. Ich studiere Sozialpädagogik." In
ihrer Stimme erklang der Stolz derer, die sich für das
Richtige entschieden hatten. Ich beneidete sie darum,
obwohl ich sie mir nicht als Leiterin eines Altersheimes
vorstellen konnte. Sie würde auf ihren Rundgängen
aussehen wie eine Regentin auf Besuch.
"Womit hast du dir die Zeit vertrieben?"
Ich traute mich nicht, ihr die Wahrheit zu sagen. "Ich
habe viel nachgedacht."
Sie nickte aufmunternd.
"Ich bin wegen Alexej hierhergekommen, und ich
klebe hier fest. Dann muss ich doch dieses Land
kennenlernen. Ich bin zum ersten Mal in der
ehemaligen DDR. Du bist die erste Frau, mit der ich
mich unterhalte."
"Für euch ist es wahrscheinlich schwieriger als für uns,
denn wir kennen euch schon lange. Wir konnten euch
im Fernsehen studieren, und im Urlaub in Ungarn
haben
wir
eure
Shampoos
geklaut
in
den
Duschkabinen."
"Hast du einen Freund?", fragte ich sie, weil ich schon
wieder an Alexej denken musste.
"Nein, ich bin geschieden." Dass jemand so jung war
und bereits geschieden, machte mich neidisch.
"Das verstehe ich nicht. Wie konntest du so früh
heiraten?"
Frieda sah mich fast ein wenig mitleidig an. "Meinst
du, wir hätten sonst eine Wohnung bekommen?"
Sie zeigte mir ihr Fotoalbum. Das Hochzeitsbild war
auf einer Wiese aufgenommen. Die "Gesellschaft"
stand
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