Die Nachzüglerin (German Edition)
benachrichtigen?"
Er schoss den Korken ab.
"Ich habe keine Lust, allen Leuten zu erzählen, dass
ich Anna in ihrer schweren Stunde im Stich gelassen
habe."
Beim Einschenken hielt er die Flasche zu lasch, der
Sekt schäumte auf die Tischplatte. "Auf das Leben",
sagte ich und meinte Saschas Leben, wenigstens das
sollte gut sein.
Alexej saß auf der Couch neben mir.
"Wie findest du Sascha?", fragte ich.
"Er kommt mir vor wie ein kleines Tier, gar nicht wie
ein Mensch. Er hat etwas von einem Dinosaurier."
"Er ist dein Sohn."
"Das kann ich mir noch gar nicht vorstellen. Er sieht
aus wie ein Außerirdischer."
"Gefällt er dir nicht?"
Alexej antwortete nicht. Ich fing an, Chips in mich
hineinzuschlingen. In der Aufregung der letzten
Stunden war ich nicht zum Essen gekommen und
merkte erst jetzt, dass ich großen Hunger hatte.
"Willst du das Kind zusammen mit Anna großziehen?
Ich meine, wollt ihr euch die Arbeit teilen?"
Alexej starrte auf seine Zigarette und zog dann daran,
als wollte er nicht nur den Rauch, sondern auch den
Tabak inhalieren. Die Frage war ihm unangenehm,
aber ich ließ nicht locker.
"Soll Sascha dein Spaßbringer in der Freizeit sein, oder
bist du bereit, nachts aufzustehen und ihm die
Windeln zu wechseln?"
Weil Alexej nicht antwortete, fragte ich ihn: "Bist du
müde? Vielleicht sollte ich jetzt gehen."
"Anna soll mir alle drei Monate ein Foto schicken."
Alexej stand plötzlich auf und fing an herumzulaufen.
"Ich habe gerade die Geburt verpasst. Anna hatte es in
den letzten paar Wochen schwer. Ich konnte ihr den
Bauch nicht abnehmen, ich konnte auch nicht
hundertmal am Tag für sie aufs Klo rennen. Das
Schlimmste haben wir hinter uns, bzw. Anna hat das
Schlimmste hinter sich. Da sprichst du von
Arbeitsteilung."
"Das macht nichts", beruhigte ich ihn. "Der
Anwesenheit der Väter im Kreißsaal folgt selten eine
Partizipation in der Erziehungsarbeit". Ich öffnete die
zweite Tüte Chips.
"Setz dich wieder hin. Es tut mir leid. Ich weiß auch
nicht, was ich mit der ganzen Sache zu tun habe. Es ist
schließlich nicht mein Kind."
Alexej nickte. Er setzte sich wieder hin und nahm mir
die Tüte aus der Hand - beiläufig sanft, aber bestimmt,
wie man einem Kind etwas wegnimmt. Er würde ein
wunderbarer Vater werden. Er würde ohne viele
Worte auskommen. Ich beneidete Sascha.
"Ich gehe jetzt. Ich hätte längst gehen sollen."
Alexej rückte mir das Polster unter dem Rücken
zurecht.
"Ruh dich aus, du bist doch sicher müde. Soll ich dir
noch etwas zu essen bringen?" Er sprach leise, doch
mit brummender Stimme, wie der Beschwörer mit der
Schlange redet. Matt lag ich in den Kissen und befahl
mir aufzustehen. Ich wehrte mich gegen seinen
Singsang und gegen das Blei in meinen Armen und
Beinen.
Langsam und sehr sachte begann Alexej meinen
Ellenbogen zu streicheln. "Bleib bei mir, Franka", bat
er mich so leise, dass ich es kaum hören konnte. Ich
hätte die Augen schließen und so tun können, als
streifte ein Wind meine Haut. Aber mein Arm
versteinerte. Ich stand auf und ging in das
Badezimmer. Saschas rote Babybadewanne stand hier
und leuchtete mir wie ein Verkehrsschild entgegen. Ich
wusch mir mein Gesicht mit kaltem Wasser ab. Ich
weiß nicht, wie lange. Ich richtete mich erst vom
Wasserhahn auf, als er hinter mir stand. Im Spiegel sah
ich das Wasser von meinem geröteten Gesicht rinnen.
Ich ließ die Wohnungstür offen und fühlte, dass er mir
nachsah. Ich konnte nicht wütend sein auf ihn, ich
konnte kein schlechtes Gewissen Anna gegenüber
haben. Ich fühlte mich nur schuldig, weil ich ihn
verließ.
Bestimmt war Frieda auch böse auf mich. Ich hatte ihr
noch nichts von dem Geld, das sie mir geliehen hatte,
zurückgegeben. Ich fragte mich, ob ich ein Unternehmen gründen sollte, denn so stand es geschrieben,
dass alle Arbeitslosen sich gefälligst selber an den
Haaren aus dem Sumpf ziehen und sich selbstständig
machen sollten. Die Zeitungen waren voll davon, wie
Frau F. nach der Wende von ihrem Ehemann verlassen wurde und den Job verlor, dann aber mit einer
guten Idee und viel Initiative, Eigenleistung, Geschick,
Know-how und vor allem Kreativität eine kleine,
jedoch stetig wachsende Firma gründete, in der sie
sogar noch andere Arbeitslose beschäftigen konnte.
Ich war einfach zu dumm, um Stroh zu Gold zu
verspinnen. Jedes Mal wenn ein neues Geschäft
eröffnete, fühlte ich mich ertappt. Ohne Unterstützung würde ich gar nichts schaffen.
Meine Eltern waren froh, als ich mich endlich bei
ihnen meldete. Sie
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