Die Netzhaut
ließ.
Sie ließ ihren Blick zum Fenster schweifen. Der Wind wirbelte Blätter und Staub auf. Als er sich wieder legte, bildete sich ein Muster.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sie sich von ihm ab, durchquerte das Zimmer und ging hinaus.
*
Während ich hier im Wohnzimmer sitze und in den Winternachmittag hinausblicke, setze ich unser Gespräch in Gedanken fort. Wie konntest gerade du, der so viel über kindliche Bedürfnisse weiß, so etwas tun?, fragst Du. Und erneut erzähle ich Dir von dem Frühling vor dreizehn Jahren, von der Reise nach Makrygialos. Ich betreute Patienten, ich trat im Fernsehen auf, ich hatte feste Spalten in Zeitungen und Magazinen. Alle wollten etwas von mir. Und ich versorgte sie alle. Dann kam dieser Tag im April. Als ich ins Wohnzimmer kam, saß Elsa, meine Ehefrau, auf dem Stuhl, von dem Du gerade aufgestanden warst. Sie bat mich, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Dann sagte sie: »Ich ziehe aus, Tormod.« Ich habe ihr nicht geglaubt. Unsere Ehe war gut. Unseren Kinder ging es gut. Wir unternahmen etwas zusammen, hatten nach fast zwanzig gemeinsamen Jahren sogar noch ein aktives Sexleben. »Das kann nicht sein«, entgegnete ich. Doch drei Tage später war sie verschwunden. Ich wurde von einem Sturm erfasst. Plötzlich war er überall, um mich herum und in mir. Ich wusste nicht, ob ich das überleben würde. Dann war er plötzlich vorbei, und da begannen die eigentlichen Schwierigkeiten. Morgens aufstehen, sich waschen und anziehen. Ganz zu schweigen von den Einkäufen. Oder die Kinder zum Training fahren. Man hatte mich verstoßen, und ich war in einer anderen Landschaft gelandet. Ganz still war es hier. Tot. Ohne Bäume, ohne Farben. Nichts als eine große schwarze Sonne, die sämtliches Licht verschlang. Ich hörte nur meine eigenen Schritte, die sich durch die Asche schleppten. Ein Freund und Kollege von mir, ein intelligenter, netter Kerl, hat mich besucht und mit mir geredet, zuerst behutsam und freundlich, dann klar und deutlich. Und irgendwann, als der Herbst anbrach, hat er einfach ein paar meiner Sachen in einen Koffer gepackt, mich ins Auto verfrachtet und zum Flughafen gefahren. Er hatte eine Ferienreise für mich gebucht. Eigentlich wollte er mitkommen, aber dann gab es irgendeinen Zwischenfall in seiner Familie, jemand wurde krank, also musste ich mich allein auf den Weg machen.
Du kannst mir nicht einreden, dass eure Beziehung gleichwertig war, hast Du gesagt.
Aber wir waren ebenbürtig, Liss, jedenfalls am Anfang. Doch Jo, wie ich ihn immer noch nenne, wollte mich nicht mehr gehen lassen. Er klammerte sich an mich, als gelte es sein Leben. Er vergötterte mich. Und ich durfte niemand anders sein als der Gott, den er brauchte.
Und Ylva?, fragst Du. Dir musste doch klar sein, wer Ylva getötet hatte.
Ich habe den Zusammenhang nicht begriffen. Das musst Du mir glauben, Liss. Eine junge Frau in Bergen, die Ylva heißt. Ein Foto auf der Titelseite. Vielleicht ähnelte sie einem Mädchen, das ich vor vielen Jahren im Urlaub gesehen hatte. Vielleicht nicht … Natürlich hätte ich den Zusammenhang gesehen, wenn ich das ertragen hätte. Wir haben so oft von ihr geredet. In seiner Fantasie musste ich ein Bild von ihr aufbauen und ihm sagen, wie er sich ihr nähern sollte. Sie war das Symbol für alles Weibliche. Ich lenkte sein Begehren in ihre Richtung, auf ein Mädchen in seinem Alter. Nicht auf die leibhaftige Ylva, sondern auf ihr Bild.
»Verstehst Du mich, Liss?«, frage ich laut. »Sag, dass Du mich verstehst.«
Du bist nicht mehr da. Nur der Klang Deiner Schritte, als Du das Zimmer durchquerst hast. Das Geräusch der Tür, die Du zugeschlagen hast. Und der Nachhall Deiner letzten Worte an mich: »Du hast Mailin umgebracht.«
Vielleicht weißt Du, dass es in Deinen Händen liegt, was nun geschieht. Entweder irren wir blind durch eine ewige Ödnis, oder wir finden ein paar Wassertropfen. »Einen Frieden, der jeden Verstand übersteigt.«
*
Sie ging den Frognerseterveien hinunter, während ihr der Gestank der Abgase in die Nase stieg. Es hatte erneut zu schneien begonnen, doch der Wind hatte nachgelassen. Sie erreichte die U-Bahn-Station, stapfte jedoch weiter am Wegrand entlang, wo sich der geräumte Schnee auftürmte. Ihre Füße schmerzten immer noch von den Erfrierungen, die sie am Morrvann erlitten hatte. Unablässig kamen ihr Autos entgegen und bespritzten ihre Schuhe mit schmutzigem Schnee.
Am Rikshospital bog sie ab und nahm den Weg, der sich an
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