0257 - Der Schädel des Hexers
»Es ist unwahrscheinlich, Sir, wirklich unwahrscheinlich. Aber Sie werden es gleich selbst erleben. Kommen Sie mit!«
»Ja, ja«, drängte Suko, »machen Sie schon!«
»Natürlich, Sir, natürlich. Sonst hätte ich Sie ja nicht angerufen. Warten Sie, ich mache Licht. Sie werden staunen. Wenn Sie noch nie das Grauen erlebt haben«, er senkte seine Stimme und sprach flüsternd weiter. »Hier werden Sie es hautnah mitbekommen.« Der Sprecher räusperte sich. »In den nächsten Minuten schon.«
Suko schwieg. Gegen den Redestrom des Knaben kam er sowieso nicht an. Der Mann hieß Andy Anderson. Er war aufgeregt zu Scotland Yard gekommen und hatte von einem unheimlichen Phänomen gesprochen.
Sein Beruf war Maler. Und wie man sich landläufig einen Maler vorstellt, sah er auch aus. Ziemlich dünn, die Kleidung schlotterte um seinen Körper, auf dem Kopf trug er eine schief sitzende Baskenmütze, dunkel hingen die Bartfäden von der Oberlippe bis zum Kinn. Sie zitterten, wenn er sich bewegte.
Er wohnte im Londoner Westend. Eigentlich eine vornehme Gegend. So schlecht schien es ihm nicht zu gehen, und sein Arbeitsraum befand sich in einem Schuppen, der hinter einem alten Patrizierhaus stand und dessen Tür er jetzt mit zitternden Fingern aufschloß.
Die Tür klemmte ein wenig. Deshalb mußte er zweimal nach drücken, um sie zu öffnen..
Wie ein Dieb schob er sich durch den Spalt, blieb auf der Schwelle stehen und schaute zurück, wobei er noch winkte.
Suko verstand das Zeichen und folgte ihm. So ganz traute er dem Braten nicht, aber er hatte nun einmal in den sauren Apfel gebissen und mußte auch folgen.
Über seinen Rücken fuhr ein kalter Windstoß. Er blähte Sukos Jacke auf.
Für kurze Zeit waren die Waffen des Chinesen zu sehen. Die im Gürtel steckende Dämonenpeitsche und auch die mit Silberkugeln geladene Beretta.
Im Schuppen war es dunkel. Es gab zwar Fenster, doch die waren mit schwarzer Farbe bestrichen worden, damit von draußen niemand hineinschauen konnte.
»Moment, Sir, ich mache Licht. Bleiben Sie nur stehen. Sie werden gleich die Überraschung erleben.«
Bisher hatte der Inspektor den Worten nicht so recht getraut. Für ihn war der andere ein Spinner. Einen Augenblick später wurde er allerdings eines Besseren belehrt, als unter der mit Holz verkleideten Decke mehrere Punktstrahler aufleuchteten.
Sie gaben genügend Licht, so daß man im Raum alles erkennen konnte.
Es war ein Hammer. Und zum ersten Mal nahm Suko diesen Andy Anderson ernst, denn der Schuppen diente als Lager.
Ein Lager für Totenschädel!
So etwas hatte der Chinese noch nie gesehen. Er war schon verflixt weit herumgekommen, aber die mit Totenschädeln geschmückten Wände, das war einfach zuviel.
In Dreierreihen standen die Regalbretter übereinander. Und in jedem Regal lagen die Schädel dicht an dicht. Suko blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.
»Nun, Sir, habe ich zuviel versprochen?« Andy Anderson war in der Mitte des Schuppens stehengeblieben und schaute in die Runde.
»Nein.«
»Das haben Sie noch nie gesehen?«
»Stimmt.« Suko war interessiert näher getreten, da er etwas Besonderes an den Schädeln entdeckt hatte.
Die Schädel links von ihm waren völlig normal. Das Licht strahlte sie an, und aus diesem Grunde sahen sie mehr weiß als gelb aus. Die Schädel an der anderen Wandseite des Schuppens jedoch stachen von den normalen ab.
Aus einem einfachen Grund.
Sie waren bemalt.
Und auch so etwas hatte Suko noch nie gesehen. Bemalte Totenköpfe, sogar mit Namen versehen, die er lesen konnte, als er an der Reihe entlang schritt.
Judith, las er. Paula, Lena, Harriet. Das waren die Namen der Frauen.
Aber auch Männernamen konnte er entdecken. Da stand der Schädel eines Roger, daneben der eines Jack und so weiter…
»Toll, nicht?« Stolz schwang aus der Stimme des Malers mit.
Suko drehte sich zu ihm um. »Sind Sie Sammler?«
»Eigentlich nicht.«
»Aber was sollen die ganzen Schädel hier?«
Da lachte der Maler. »Man hat sie mir gebracht. Ich bin ein Schädelmaler.«
»Noch nie gehört.«
»Es gibt Menschen, die lieben ihre Verstorbenen so sehr, daß sie deren Totenschädel aus dem Grab holen lassen und mir bringen, damit ich sie anmale.«
»Und davon leben Sie?«
»Ja, Sir. Sie jagen Verbrecher, ich Schädel. Obwohl ich kein Schädeljäger im herkömmlichen Sinne bin.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Suko schüttelte den Kopf. »Und weshalb haben Sie mich gerufen? Um mir dies alles zu zeigen?
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