Die Netzhaut
lag.
Er erhob sich und warf einen Blick darauf.
»Ich muss rangehen«, sagte er.
Sie stand ebenfalls auf.
»Geh noch nicht, Liss.«
»Nein«, entgegnete sie. »Keine Sorge.«
Er verschwand in der Küche und schloss die Tür hinter sich. Sie hörte seine Stimme durch die Wand, und obwohl sie nicht verstand, was er sagte, beruhigte sie sein gedämpfter Ton. Plötzlich wurde sie von einem Gefühl der Dankbarkeit ergriffen, dass es Menschen wie ihn gab. Dieselbe Ruhe musste Mailin gespürt haben, wenn sie mit ihm gesprochen hatte. Auch Mailin hatte jemand gebraucht, der ihr half, ihr Schicksal zu meistern.
Sie ging zum Fenster und schaute hinaus. Das Grau hatte sich verdichtet, doch es war in Bewegung, und das Licht dahinter war scharf. Im Garten lugten Zweige und Äste aus dem nassen Schnee hervor. Das Grundstück setzte sich bis zum Wald fort und wurde von Bäumen eingerahmt, die sich heftig im Wind bogen. Eines der Fenster war angelehnt. Durch den Spalt hörte sie, wie die Bäume im Wind jammerten.
Auf der Anrichte standen unzählige Familienfotos. Sie erkannte die Tochter wieder, die ihr an der Haustür begegnet war. Sie trug ein weißes Kleid mit Schleifen und hatte einen Schulranzen auf dem Rücken. Ein anderes Foto zeigte Dahlstrøm, wie er vor einigen Jahren ausgesehen hatte, mit dichterem Haar und markanteren Gesichtszügen. Aber der tiefe, ruhige Blick hatte sich nicht verändert. Das Bild schien vom 17. Mai zu stammen, dem Nationalfeiertag, denn er trug Anzug und Krawatte, und ein Junge, der ihm ähnlich sah, saß auf seinen Schultern und hielt eine kleine Flagge in der Hand. Auf dem nächsten Foto in Schwarzweiß war eine dunkelhaarige Frau mit gewellten Haaren zu sehen, die etwas von Greta Garbo hatte. Liss vermutete, dass es Dahlstrøms Mutter war. Auf einem anderen Bild trug dieselbe Frau ein langes, tailliertes Kleid. Ein Mann mit dunklen und glatt zurückgestrichenen Haaren hielt sie im Arm. Auch er hatte tief liegende Augen und ein vorstehendes Kinn, das noch kräftiger ausgeprägt war als Dahlstrøms. Liss nahm das Bild und hielt es ins Licht. Sie registrierte, wie überrascht sie war, dass Dahlstrøm überhaupt Eltern besaß, als habe sie ihn sich als Wesen anderen Ursprungs vorgestellt.
In diesem Moment kam er wieder herein. Sie zuckte zusammen und schaffte es nicht mehr, das Bild rechtzeitig zurückzustellen. Doch es schien ihm nichts auszumachen.
»Bist du an Familiengeschichten interessiert?«
Sie dachte darüber nach.
»Es ist schon interessant zu erfahren, von wem wir unser Aussehen und unsere Eigenschaften haben.«
»Und wem ähnelst du am meisten?«, fragte er.
»Meinem Vater«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Ich habe fast alles von ihm, und von seiner Mutter. Wenn ich dir Fotos von ihr zeigen würde, könntest du keinen Unterschied zwischen uns sehen.«
»Ähnelst du ihr auch auf andere Weise?«
Sie wickelte sich eine Haarlocke um den Finger.
»Unsere Großmutter war eine merkwürdige Frau. Niemand hat sie verstanden. Sie fühlte sich bestimmt fremd in der Welt. Sie starb in der psychiatrischen Klinik in Gaustad.«
Liss unterließ es, ihren Namen zu nennen.
»Das klingt so, als wäre das eine bestimmte Warnung für dich.«
In seinem Kommentar lag eine Frage.
»Vielleicht …« Sie geriet ins Stocken. »Steht dein Leben nicht auch unter dem Einfluss deiner Eltern und Großeltern?«
»Sie haben sicher ihren Anteil«, antwortete er. »Mein Vater wollte immer, dass aus mir mal was wird, am liebsten Arzt. Zur Psychiatrie hatte er kein Verhältnis, sie ist wohl auch nicht besonders prestigeträchtig. Er selbst betrieb einen Konfektionshandel, wie das damals hieß. Über sechzig Jahre lang handelte er mit Kleidung, und in seinen Augen habe ich sehr viel mehr erreicht als er. Meinem Vater ging es vor allen Dingen darum, dass die nächste Generation ein Stück die Karriereleiter emporklettert.«
Irgendetwas ließ sie plötzlich aufhorchen. Sie wusste nicht, was es war. Immer noch hielt sie das Foto seiner Eltern in der Hand. Sie betrachtete den sorgfältig gekleideten Mann mit den glatt gekämmten Haaren, wie er die Frau im Arm hielt, die an der Kamera vorbeiblickte und zu lächeln schien.
Auf der CD , in Mailins Aufzeichnungen, dachte sie. Da stand etwas über Jakkas Vater.
»Ich habe alles über Bergers Vater gelesen, was ich im Internet finden konnte … Er hat keine Kleider verkauft. Er war Pastor in der Pfingstbewegung.«
Unzusammenhängende Gedanken, die lange
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