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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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überraschend kurzlebige Phase in der langen Geschichte der Imperien und Zivilisationen».
    Dieser Befund kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es manche ehemalige Kolonien nicht geschafft haben, sich aus den Trümmern des Imperiums zu erheben. Sie hausen vielmehr auch weiterhin in den Ruinen des British Empire, geschlagen mit allen Übeln einer fehlgegangenen Entkolonialisierung und geplagt von ausländischen Einmischungen ebenso wie vom Exodus inländischer Eliten. All dies hatte große Flüchtlingsströme zur Folge, vor allem nach Europa und Nordamerika.
    All dies hatte auch große Erzählungen zur Folge, über Elend, Aufruhr und Aufbegehren in den Ex-Kolonien, über Flucht und Exil, über die Mehrfach-Identität und Misch-Existenz als Luftwurzler, als moderne Nomaden, die zwischen Abschiebung und Fuß-Fassen hin- und hertaumeln. Indem die migrantischen Autoren ihre Herkunftskulturen – also Geschichte, Religionen, Lebensstile, Mythen, Künste, Rituale, Speisen, Folklore, orale Erzähltraditionen – in Literatur transformieren und ins Exil weitertragen, leisten sie auch Vermittlungsarbeit. Sie übersetzen ihren Einwanderungsländern die jeweilige Kultur ihrer Herkunftsländer. Sie erzählen von ihren mannigfaltigen Metamorphosen und vom Kulturwechsel, der nicht immer als Bereicherung erlebt wird.
    Migration hat meist wenig mit dem Glück multikultureller Selbstintensivierung und der Lust an der Ich-Bereicherung durch hybride Mischungen zu tun. Viel öfter ist Migration eine Erfahrung des Mangels. Geschrieben wird daher auch über die Leiden am Selbstverlust in der Fremde, über den Schock der Verstädterung, über fehlgehende oder verhinderte Integration, über Fremdheitsgefühle und verlorene Identität. Doch gerade in der Beschreibung der Defizite werden auch die Umrisse eines Hoffnungsmodells erkennbar: Erahnbar werden die Chancen eines friedlichen Zusammenlebens in Menschenwürde und Toleranz.
    Außer über die Freuden und Mühen der Ankunft in ihren Zufluchtsländern erzählen die Flüchtlinge auch Geschichten über ihre unglücklichen, misshandelten Herkunftsländer. Als Exilanten meist im Westen lebend, blicken sie aus dem Ausland auf ihre Ursprungsländer zurück – je nach Erzähltemperament mit Trauer, Qual oder Sehnsucht, mit Sarkasmus, Hohn oder Ekel, immer aber mit beträchtlichenPhantomschmerzen. So unterschiedlich ihre Gefühle auch sein mögen, eines eint sie untergründig: die Melancholie des Migrantentums. Ihr Land hat sie in die Flucht geschlagen, eine Rückkehr auf Dauer kann und wird es für sie zumeist nicht geben.
    Diese Melancholie erweist sich als gewaltige Produktivkraft. Es ist kein Zufall, dass viele der bedeutendsten Autoren dieser neuen Weltliteratur aus maroden oder gar ruinierten Ländern stammen: Deren Misere versorgt sie mit unendlichen Erzählstoffen. Im Exil gestalten sie ihre kaputten Herkunftswelten sprachlich neu. Was in den Ruinen Pakistans, Nigerias, Somalias oder des Irak, aber auch in den Bürgerkriegsländern Libanon und Jugoslawien blüht, ist nicht zuletzt eine üppige und vielstimmige Literatur. Ein in Jahrzehnten des Bürgerkriegs ruinierter und aufgegebener Staat wie Somalia etwa wird vom Autor Nuruddin Farah am Leben erhalten, indem er darüber schreibt.
    Dank solcher Autoren verschiebt sich der Atlas der Literaturlandschaften. Stimmen aus bisher literarisch stummen Weltregionen beginnen sich Gehör zu verschaffen. Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt zunehmend auf außereuropäischen Literaturen und deren rasantem Wachstum. Die herkömmliche literarische Orientierung (die in Wahrheit eine Okzidentierung war) ist längst nicht mehr anwendbar und kommt immer mehr außer Gebrauch, je dynamischer die globale Literatur wächst und an Bedeutung zunimmt. Auffällig ist deren Gestus der Widersetzlichkeit. Oft stellen die Romane und Erzählungen der Migranten die Normen, Werte und literarischen Traditionen des bisher dominierenden Westens systematisch infrage. Subversive und rebellische Schreibhaltungen sind da eine häufige Form, den Kolonialismus, aber auch einheimische Rückständigkeit oder regionalen Fundamentalismus zu kritisieren.
    Solche Kritik kann Autoren in Schwierigkeiten bringen, sogar in Lebensgefahr, wie sich an der Hetzjagd fanatischer Muslime gegen Salman Rushdie studieren lässt. Den Autor Ken

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