Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens» (S. Fischer 2013)
V. S. Naipaul «Das Rätsel der Ankunft», Roman (Kiepenheuer & Witsch 1993)
Salman Rushdie «Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981â1991» (Kindler 1992)
Doug Saunders «Die neue Völkerwanderung â Arrival City» (Blessing 2011)
Haun Saussy (ed.) «Comparative Literature in an Age of Globalization» (Johns Hopkins University Press 2006)
Sam Selvon «The Lonely Londoners», Roman (Alan Wingate 1956)
Tzvetan Todorov «Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen» (Hamburger Edition 2010)
Werner Wintersteiner «Poetik der Verschiedenheit. Literatur, Bildung, Globalisierung» (Drava 2006)
2. Kapitel
Das Rätsel der Ankunft
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«Generation Windrush»
Sie waren die Vorhut. Nach ihnen kamen Unzählige, aber sie waren die Ersten â und ihre Ankunft in England vor mehr als sechzig Jahren hat das Land für immer verändert. Sie waren die Pioniere, die die britische Nachkriegsgesellschaft zu verwandeln begannen. Sie machten aus einem bis dahin fast monochrom weiÃen England ein buntes Gemisch von Herkünften und Hautfarben. Ohne sie wäre GroÃbritannien nicht das geworden, was es heute ist: ein multiethnischer und multikultureller Mix aus eingeborenen Briten und Zuwanderern, vor allem aus den ehemaligen Kolonien. Das Schiff, das am 22. Juni 1948 in Tilbury an der Themse-Mündung anlegte, hieà «Empire Windrush», und es hatte 493 Passagiere aus Jamaika an Bord â die erste Gruppe westindischer Immigranten, die auf der Suche nach Arbeit und in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach London kamen.
Im April zuvor war in einer jamaikanischen Tageszeitung eine Anzeige erschienen, in der jedem eine billige Ãberfahrt auf der «Windrush» versprochen wurde, der nach England kommen und dort arbeiten wollte. Vor allem junge Männer folgten dem Ruf der britischen Nachkriegsregierung und ihrer Politik der offenen Tür. Da es damals noch keine Einwanderungsbeschränkungen für Bürger des British Empire gab und fast jeder Bewohner der Kolonien und Dominions des Commonwealth einen britischen Pass besaÃ, stand London den Zuwanderern aus der Karibik offen, umso mehr, als viele von ihnen während des Zweiten Weltkriegs in der
Royal Air Force
(RAF) dem Königund dem Vaterland gedient hatten und sich daher dort willkommen glaubten.
Den Immigranten galt England als das Gelobte Land und London als Zentrum der Welt â ein Phantasma, ein Traum-Ort, dessen StraÃen mit Gold gepflastert waren. So gesehen, war die «Windrush» eine Art umgekehrte «Mayflower». Auf die Pilgerväter, die einst als Kolonisatoren von England nach Amerika aufbrachen, um dort ein besseres Leben zu suchen, folgte Jahrhunderte später der Aufbruch der Kolonisierten â in der Gegenrichtung. Und wie jene hatten auch sie den trügerischen Mythos vom Goldland Eldorado mit an Bord.
Die Ernüchterung konnte auch dieses Mal nicht ausbleiben. Kein Gold auf den StraÃen Londons, kein leicht erworbener Reichtum für die armen Schlucker aus Ãbersee. Die «Generation Windrush», wie der fortdauernde Zuwandererstrom von den westindischen Inseln bald genannt wurde, durchlebte in England alle Phasen der Ablehnung als unerwünschte Job-Konkurrenz und alle Stufen der Ausgrenzung und Deklassierung aufgrund der Hautfarbe. Als die ersten schwarzen Arbeitsmigranten in England waren die afrokaribischen Westinder sehr sichtbar und zogen daher starke Aufmerksamkeit auf sich, aber auch starke Ressentiments.
Den Einheimischen galten die Einwanderer unterschiedslos und verächtlich als «Jamaikaner», auch wenn sie aus Trinidad oder Barbados stammten. Auf solche Fremdenfeindlichkeit waren die Ankömmlinge nicht gefasst. Die Traumstadt London erwies sich als Albtraum. Die Zuwanderer aus den Kronkolonien der Karibik mussten erkennen, was sie in Wahrheit waren: keine Wunsch-Londoner, sondern missachtete, allenfalls geduldete, einsame Londoner mit miesen Jobs und ebenso miesen Aussichten.
«The Lonely Londoners» heiÃt der erste Roman, in dem die Geschicke einer Handvoll Einwanderer der «Generation Windrush» aus deren Sicht erzählt werden. In dieser tragikomischen Chronik der Ankunft, die 1956 erstmals erschien und längst Klassikerstatus genieÃt, porträtiert Sam Selvon,
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