Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Die Zuwanderungswellen nach dem Ende des British Empire verwandelten das Land innerhalb von wenigen Jahrzehnten von einer monokulturellen in eine multiethnisch gemischte Gesellschaft. Sie machten aus einem bis dahin fast monochrom weiÃen England ein buntes Gemisch von Herkünften und Hautfarben â auch wenn der Boom des multikulturellen Ãberschwangs inzwischen vorbei, der Traum von der seligen kulturellen Melange aus Orient und Okzident inzwischen ausgeträumt ist. Spätestens mit
Nine Eleven
hat sich das erledigt.
Dessen ungeachtet sind es die Erzählungen migrantischer Autoren, in denen der Prozess einer globalen Transformation literarisch reflektiert und gedeutet wird. Sie machen uns unsere eigene Patchwork-Identität als universale Gegebenheit bewusst: «Die Kultur wird uns von anderen vermittelt, und jeder Mensch hat mehr als eine», wie der Soziologe Tzvetan Todorov feststellt. Diese Autoren amalgamieren die kulturellen Traditionen ihrer Ursprungsländer mit den neuen Einflüssen und Impulsen, die in England und im Westen auf sie einwirken, und verwandeln diese Mischungen in literarische Energie. Nicht nur Salman Rushdie ist der Ansicht, «dass vieles von dem, was in der Weltliteratur neu ist, tatsächlich aus diesen Gruppen hervorgeht».
Die Transformation GroÃbritanniens ist dabei nur eine Facette eines viel gröÃeren, eines globalen Wandels. Der Migrant ist zur Leitfigur der mobilen Moderne avanciert. Dies konnte deshalb geschehen, weil die Welt in Bewegung geraten ist wie nie zuvor. Globale Massenwanderungen unerhörten AusmaÃes, deren Zeugen wir gerade werden, entvölkern bäuerliche Welten in Asien und Afrika und lassen Städte zu unüberschaubaren urbanen Agglomerationen aufschwellen, an deren unwirtliche Ränder irreguläre Mega-Slums andocken und unaufhaltsam ins Umland hineinwuchern. In diesen Multi-Millionen-Städten grenzt das Archaische unmittelbar an das Ultramoderne â und das bietet ergiebigen Erzählstoff.
In «Arrival City» richtet Doug Saunders sein Augenmerk auf diese globale Menschenmassenverschiebung, die seit etwa einem Jahrhundert im Gange und noch lange nicht abgeschlossen ist â eine Verschiebungvon Landbevölkerungen in explodierende städtische Ballungsräume. Landflucht und Verstädterung erfassen laut Saunders eine bisher noch nie da gewesene Zahl von Menschen â «zwei oder drei Milliarden, vielleicht ein Drittel der Weltbevölkerung. Es wird die letzte menschliche Bewegung in dieser GröÃenordnung sein.»
Und diese Migration â die gröÃte Völkerwanderung, die je stattfand â generiert eine eigene Literatur. Am Zerfall und an den Hinterlassenschaften wie den Nachwirkungen des britischen Weltreichs lässt sich diese neue Weltliteratur besonders gut erkennen. GroÃbritannien hat nach dem Zweiten Weltkrieg seine Kolonien nacheinander in die Unabhängigkeit entlassen â gleichermaÃen widerwillig wie letztlich überstürzt. Diese ungeordnete Art der Auflösung des Imperiums hinterlieà ein enormes Vakuum in den befreiten Ländern. Und das hatte unabsehbare, mitunter auch katastrophische, chaotisierende Folgen. Die formale Dekolonisierung allein konnte den neuen Staaten mit ihren neuen Namen, Grenzen und Währungen ihre Souveränität und Würde nicht sichern.
Die Geschichte der Entkolonialisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist auch eine Geschichte blutiger Sezessionskriege, wie die Beispiele des entlang ethnischer und religiöser Linien zerfallenden indischen Subkontinents oder des Biafra-Kriegs in Nigeria zeigen; sie ist eine Geschichte von Fehlentwicklungen, von Modernisierungskrisen, diktatorischen Gewaltregimes und missglückenden Staatenbildungen, von Bürgerkriegen, Wirtschafts- und Versorgungskrisen, Ausbeutung und Mega-Korruption. Manche neue Nationen wie Pakistan, Somalia, Nigeria oder der Irak haben sich von ihrem Geburtstrauma nie erholt.
In seiner jüngsten Studie beschreibt der indische Publizist Pankaj Mishra, wie Asien neuerdings der Wiederaufstieg «Aus den Ruinen des Empires» gelungen ist. Die groÃen Länder Asiens schwanken nicht länger zwischen Aufholwillen und Ressentiment gegen den Westen, sie haben bereits aufgeholt. Die Vorherrschaft des Westens ist für Mishra längst eine Sache der Vergangenheit. Sie erscheint ihm «bereits jetzt nur als eine weitere,
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