Die neuen Leiden des jungen W
verkniffen.
»Und anschließend warf ihm Edgar dann diese Grundplatte auf den Fuß und mit dermaßen Kraft, daß ein Zeh brach. Ich war wie vom Donner gerührt. Ich wollte das erst nicht glauben.«
Stimmt alles. Bis auf zwei Kleinigkeiten. Erstens hab ich die Platte nicht geworfen. Das brauchte ich nicht. Diese Platten waren auch so schwer genug, einen ollen Zeh oder was zu brechen, einfach durch ihre Masse. Ich brauchte sie bloß fallen zu lassen. Was ich denn auch machte. Und zweitens ließ ich sie nicht anschließend fallen, sondern erst sagte Flemming noch einen kleinen Satz, nämlich er tobte los: Von dir hätte ich das am allerwenigsten erwartet, Wiebau!
Da setzte es bei mir aus. Da ließ ich die Platte fallen. Wie das klingt: Edgar Wiebau! – Aber Edgar Wibeau! Kein Aas sagt ja auch Nivau statt Niveau. Ich meine, jeder Mensch hat schließlich das Recht, mit seinem richtigen Namen richtig angeredet zu werden. Wenn einer keinen Wert darauf legt — seine Sache. Aber ich lege nun mal Wert darauf. Das ging schon jahrelang so. Mutter ließ sich das egal weg gefallen, mit Wiebau angeredet zu werden. Sie war der Meinung, das hätte sich nun mal so eingebürgert, und sie war nicht gestorben davon und überhaupt, alles, was sie im Werk geworden ist, ist sie unter dem Namen Wiebau geworden. Und natürlich hieß unsereins dann auch Wiebau! Was ist denn mit Wibeau? Wenn’s Hitler war oder Himmler! Das wär echt säuisch! Aber so? Wibeau ist ein alter Hugenottenname, na und? — Trotzdem war das natürlich kein Grund, olle Flemming die olle Platte auf seinen ollen Zeh zu setzen. Das war eine echte Sauerei. Mir war gleich klar, daß jetzt kein Schwein mehr über die Ausbildung reden würde, sondern bloß noch über die Platte und den Zeh. Manchmal war mir eben plötzlich heiß und schwindlig, und dann machte ich was, von dem ich nachher nicht mehr wußte, was es war. Das war mein Hugenottenblut, oder ich hatte einen zu hohen Blutdruck. Zu hohen Hugenottenblutdruck.
»Du meinst, Edgar hat einfach die Konsequenz der Sache gescheut und ist deshalb weg?«
»Ja. Was sonst?«
Ich will mal sagen: Besonders scharf war ich auf das Nachspiel nicht. »Was sagt der Jugendfreund Edgar Wiebau (!) zu seinem Verhalten zu Meister Flemming?« Leute! Ich hätt mir doch lieber sonstwas abgebissen, als irgendwas zu sülzen von: Ich sehe ein... Ich werde in Zukunft..., verpflichte mich hiermit... und so weiter! Ich hatte was gegen Selbstkritik, ich meine: gegen öffentliche. Das ist irgendwie entwürdigend. Ich weiß nicht, ob mich einer versteht. Ich finde, man muß dem Menschen seinen Stolz lassen. Genauso mit diesem Vorbild. Alle forzlang kommt doch einer und will hören, ob man ein Vorbild hat und welches, oder man muß in der Woche drei Aufsätze darüber schreiben. Kann schon sein, ich hab eins, aber ich stell mich doch nicht auf den Markt damit. Einmal hab ich geschrieben: Mein größtes Vorbild ist Edgar Wibeau. Ich möchte so werden, wie er mal wird. Mehr nicht. Das heißt: Ich wollte es schreiben. Ich hab’s dann bleibenlassen, Leute. Dabei wäre der Aufsatz höchstens nicht gewertet worden. Kein Aas von Lehrer traute sich doch, mir eine Fünf oder was zu geben.
»Kannst du dich an sonst noch was erinnern?«
»An einen Streit natürlich? — Wir haben uns nie gestritten. Doch, einmal schmiß er sich vor Wut die Treppen runter, weil ich ihn irgendwohin nicht mitnehmen wollte. Da war er fünf, wenn du das meinst. — Trotzdem wird alles wohl meine Schuld sein.«
Das ist großer Quatsch! Hier hat niemand schuld, nur ich. Das wolln wir mal festhalten! — Edgar Wibeau hat die Lehre geschmissen und ist von zu Hause weg, weil er das schon lange vorhatte. Er hat sich in Berlin als Anstreicher durchgeschlagen, hat seinen Spaß gehabt, hat Charlotte gehabt und hat beinah eine große Erfindung gemacht, weil er das so wollte!
Daß ich dabei über den Jordan ging, ist echter Mist. Aber wenn das einen tröstet: Ich hab nicht viel gemerkt. 380 Volt sind kein Scherz, Leute. Es ging ganz schnell. Ansonsten ist Bedauern jenseits des Jordan nicht üblich. Wir alle hier wissen, was uns blüht. Daß wir aufhören zu existieren, wenn ihr aufhört, an uns zu denken. Meine Chancen sind da wohl mau. Bin zu jung gewesen.
»Mein Name ist Wibeau.«
»Angenehm. — Lindner, Willi.«
Salute, Willi! Du warst zeitlebens mein bester Kumpel, tu mir jetzt einen Gefallen. Fang nicht auch an, in deiner Seele oder wo nach Schuld zu wühlen und so.
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