Prolokratie: Demokratisch in die Pleite (German Edition)
I. Ein Souverän namens Kevin und Jessica – oder: Warum braucht man einen Führerschein zum Autofahren, aber nicht, um wählen zu dürfen?
J essica ist arbeitslos, ziemlich pleite und daher dringend an Bargeld interessiert. Deshalb ruft Jessica, der Stimme nach eine Mittzwanzigerin, bei einer jener spätabendlichen Call-In-Quizsendungen des deutschen Krawallfernsehens an, in der es für die richtige Beantwortung einer nicht allzu anspruchsvollen Frage einige hundert Euro zu gewinnen gibt.
» Eine deutsche Automarke mit vier Buchstaben, deren erster ein A ist. « Das will der Moderator von Jessica wissen, bevor sie sich über den Gewinn von 500 Euro freuen darf.
Jessica denkt nach. Nach einigen Augenblicken kommt ohne erkennbaren Zweifel die Antwort: »BMW«.
Was Jessica zu dieser originellen Antwort bewogen hat, bleibt im Dunklen. Vielleicht hat sie geraten, vielleicht sind das Alphabet mit seinen vielen Buchstaben und das Zählen nicht ihre Stärke, vielleicht fährt ihr Freund Kevin, auch er vermutlich in eher prekären finanziellen Verhältnissen, einen tiefer gelegten BMW und hat damit ihr Markenbewusstsein fokussiert.
Es ist im Grunde auch uninteressant und Jessicas Privatsache mit welchen Bildungsstandards sie sich zufrieden gibt. Es ist auch nicht sinnvoll, sich über sie aus einer albernen bildungsbürgerlichen Pose zu amüsieren. Ihre Unfähigkeit, derart schlichte Problemstellungen zu lösen, ist vermutlich von ihr eher nicht freiwillig gewählt, sondern Folge einer ganzen Reihe unglücklicher Einflüsse, für die sie nichts kann.
Das Problem ist, dass trotz ihrer erkennbaren Unfähigkeit, einfachste Zusammenhänge zu begreifen und daraus einen vernünftigen Schluss zu ziehen, Jessica berechtigt ist, und in gewisser Weise auch die Pflicht dazu hat, im demokratischen Prozess im Wege von Wahlen wichtige Entscheidungen über die Zukunft ihrer Heimat zu treffen. Entscheidungen, die in vielen Fällen derart kompliziert sind, dass Jessica nicht einmal dann eine Chance hätte, eine leidlich wissensbasierte Entscheidung zu treffen, wenn sie auch nur annähernd verstünde, worum es geht.
Wäre Jessica ein beklagenswerter Einzelfall oder auch nur Teil einer bedauernswerten, aber für den demokratischen Prozess letztlich wenig relevanten Minderheit, so würde das zwar auf ein Problem des Bildungssystems hindeuten, nicht aber auf eines der Demokratie insgesamt.
Leider gibt es viele Indizien, die zeigen, dass es verdammt viele Jessicas und Kevins gibt. Sie verkörpern also nicht ein kleine Minderheit, sondern gehören zu einer relevanten, wenn nicht gar ausschlaggebenden Gruppe von Wählern.
Der Verdacht liegt nahe, dass Typen wie Jessica und Kevin in der westlichen Demokratie des 21. Jahrhunderts der Souverän sind.
Wer diesen Souverän erkunden will, der kann zum Beispiel den Chef eines erfolgreichen österreichischen Technologieunternehmens aufsuchen und sich von diesem erklären lassen, dass ein erheblicher Teil der jugendlichen Bewerber um Ausbildungsplätze trotz Schulabschlusses nicht in der Lage ist, die deutsche Sprache und die Grundrechnungsarten ohne Absturzgefahr zu verwenden.
Wer diesen Souverän erkunden will, der kann zum Beispiel am frühen Morgen in einem beliebigen städtischen Massenverkehrsmittel dessen Lesegewohnheiten studieren, sofern man angesichts der dabei konsumierten medialen Hervorbringungen überhaupt noch von »lesen« sprechen kann. Das letzte Mal, dass im deutschen Sprachraum in der U-Bahn oder im Bus ein Buchleser beobachtet werden konnte, dürfte Ende der 1960er Jahre gewesen sein, seither ist diese Spezies ausgestorben wie der Dodo auf Mauritius.
Wer diesen Souverän erkunden will, der kann das mithilfe eines ganz alltäglichen Werbeblocks im Fernsehen erledigen. Da werden Männern allen Ernstes Heilsalben angepriesen, mit denen sie angeblich in einer Woche zwei Zentimeter Bauchumfang verlieren können. Frauen werden in aller Regel als hirnlos quasselnde Dumpfbacken vorgeführt, deren zentrales Konversationsthema der Blähbauch und seine Behandlung durch rechtsdrehende Molkereiprodukte ist.
Dergleichen geht nicht auf Sendung, weil die Werbewirtschaft so blöd wäre. Dergleichen geht auf Sendung, weil die Werbewirtschaft die eher geringe intellektuelle Belastbarkeit der von ihr angesprochenen Menschen sehr genau vermessen und erhoben hat. Was uns die Werbung zeigt, das sind Jessica und Kevin in freier Wildbahn – der Souverän und sein zentrales Lebensthema, der
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