Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Sprung zu wagen. «Was immer ich verstehe oder nicht verstehe, dürfte unerheblich sein», sagte er. «Sie haben mich beauftragt, eine Arbeit zu erledigen, und je schneller ich damit vorankomme, desto besser. Soviel ich sehen kann, ist der Fall dringend. Ich behaupte nicht, Peter oder das, was Sie durchgemacht haben, zu verstehen. Wichtig ist, dass ich bereit bin zu helfen. Ich denke, Sie sollten sich damit zufriedengeben.»
    Er lebte auf. Irgendetwas sagte ihm, dass er den richtigen Ton getroffen hatte, und ein plötzliches Gefühl der Freude erfüllte ihn, so als wäre es ihm soeben gelungen, eine Grenze in seinem Inneren zu überschreiten.
    «Sie haben recht», sagte Virginia Stillman. «Sie haben natürlich recht.»
    Die Frau unterbrach sich, holte tief Atem, machte noch eine Pause, als probte sie im Geiste, was sie sagen wollte. Quinn bemerkte, dass ihre Hände die Armlehnen des Sessels fest umklammerten.
    «Mir ist klar», fuhr sie fort, «dass das meiste, was Peter sagt, sehr verwirrend ist – vor allem, wenn man ihn zum ersten Mal hört. Ich stand im Nebenzimmer und hörte, was er Ihnen sagte. Sie dürfen nicht annehmen, dass Peter immer die Wahrheit sagt. Andererseits wäre es falsch zu denken, dass er lügt.»
    «Sie meinen, ich solle manches von dem, was er sagte, glauben und anderes nicht.»
    «Genau das meine ich.»
    «Ihre sexuellen Gewohnheiten, oder deren Mangel, gehen mich nichts an, Mrs. Stillman», sagte Quinn. «Auch wenn das stimmt, was Peter sagte, so spielt es keine Rolle. Bei meiner Arbeit begegnet einem von allem etwas, und wenn man nicht lernt, mit seinem Urteil zurückzuhalten, kommt man nicht weit. Ich bin es gewohnt, mir die Geheimnisse der Menschen anzuhören, und ich bin es gewohnt, den Mund zu halten. Wenn eine Tatsache nicht direkt mit einem Fall zu tun hat, habe ich keine Verwendung für sie.»
    Mrs. Stillman errötete. «Sie sollten nur wissen, dass das, was Peter gesagt hat, nicht stimmt.»
    Quinn zuckte die Schultern, nahm eine Zigarette und zündete sie an. «So oder so», sagte er, «es ist nicht wichtig. Was mich interessiert, ist das andere, was Peter sagte. Ich nehme an, es ist wahr, und wenn, möchte ich hören, was Sie dazu zu sagen haben.»
    «Ja, es ist wahr.» Virginia Stillman ließ die Armlehnen los und stützte das Kinn in die rechte Hand. Nachdenklich, als suchte sie nach einer Haltung unbezweifelbarer Ehrlichkeit. «Peter hat die Art eines Kindes, es zu erzählen, aber was er sagte, ist wahr.»
    «Erzählen Sie mir etwas über den Vater. Alles, was Ihnen bedeutsam erscheint.»
    «Peters Vater ist einer der Bostoner Stillmans. Sie haben sicherlich von der Familie gehört. Im 19. Jahrhundert hat sie mehrere Gouverneure gestellt, einige episkopale Bischöfe, Botschafter, einen Rektor von Harvard. Gleichzeitig verdiente die Familie viel Geld mit Textilien, im Speditionsgeschäft und weiß Gott, wo noch. Die Einzelheiten sind unwichtig. Ich wollte Ihnen nur eine Vorstellung von dem Milieu geben.
    Peters Vater ging nach Harvard wie alle anderen in der Familie. Er studierte Philosophie und Theologie und zeichnete sich in jeder Hinsicht aus. Seine Dissertation schrieb er über die theologischen Interpretationen der Neuen Welt im 16. und 17. Jahrhundert, dann nahm er einen Lehrauftrag an der theologischen Fakultät der Columbia University an. Nicht lange danach heiratete er Peters Mutter. Ich weiß nicht viel über sie. Nach den Fotos zu urteilen, die ich gesehen habe, war sie sehr hübsch. Aber zart – ein wenig wie Peter mit diesen hellen blauen Augen und der blassen Haut. Peter wurde einige Jahre später geboren. Die Familie lebte damals in einer großen Wohnung am Riverside Drive. Stillmans akademische Karriere ließ nichts zu wünschen übrig. Er arbeitete seine Dissertation um und machte ein Buch daraus – es ging sehr gut – und wurde mit vierunddreißig Jahren ordentlicher Professor. Dann starb Peters Mutter. An ihrem Tod ist alles unklar. Stillman behauptete, sie sei im Schlaf gestorben, aber die Indizien schienen auf Selbstmord zu deuten. Es war von einer Überdosis Schlaftabletten die Rede, aber natürlich konnte nichts bewiesen werden. Man sprach sogar davon, dass er sie umgebracht habe. Aber das waren bloße Gerüchte, und es kam nie etwas heraus. Die ganze Affäre wurde vertuscht.
    Peter war damals gerade zwei, ein völlig normales Kind. Nach dem Tod seiner Frau hatte Stillman offensichtlich nur wenig mit ihm zu tun. Ein Kindermädchen wurde

Weitere Kostenlose Bücher